Die Bernardinerinnen von Esquermes: Zisterzienserinnen in gewollter Kontinuität

Diese Einheit wurde erstellt von Sr. Mary-Colette, Hyning

 






 

Die Bernardinerinnen von Esquermes leben heute gemäss dem spirituellen Erbe dreier Abteien in den Provinzen Flandern und Artois. Dieses Erbe wurde belebt und gestärkt durch die Zufälle der Geschichte, durch die sie unentwegt gezwungen waren zu unterscheiden, was der Geist von ihnen wollte und wie sie ihm treu bleiben könnten in den aufeinander folgenden, durch die politischen Umstände auferlegten Erneuerungen und Verzichten.

1. Drei Abteien von Flandern und Artois

Notre-Dame d’ANNAY in La Brayelle, 1196 anerkannt durch Hugo, Abt von Sankt Peter de Gand; dreißig Ordensfrauen von Blandecques (gegründet 1182) richten sich dort ein unter der Autorität des Abtes von Vaucelles, der im Namen des Vaterabtes, des Abtes von Cîteaux, handelt.

Notre-Dame des PRÉS: ein Beginenhof in Douai, der 1212 von den drei Schwestern, Sainte, Rose und Foukeut de la Halle gegründet wurde und dem sich rasch zwei weitere, Frescendre und Marie la Francke, anschließen. Das Zisterzienserideal zieht sie an. Die Äbtissin von Annay unterstützt sie; Abt Raoul von Clairvaux gibt sein Einverständnis und bestimmt Abt Robert von Vaucelles, über sie zu wachen. Eine Bulle von Papst Honorius III. vom Juni 1221 „gewährt dem Kloster den Schutz des Heiligen Stuhles, entzieht es der Jurisdiktion des Weltklerus und gibt ihm das Recht, selbst eine Äbtissin zu wählen“. Er selbst hatte die erste ernannt: Dame Ellisandre Dassonville, die Priorin von Annay.

Notre-Dame du Désert oder de LA WOESTINE, in der Gegend von Saint Omer. 1217 belegt eine Gruppe von Ordensfrauen, die zweifellos von Annay gekommen waren, Gebäude, die früher Stiftsherrn gehört hatten. Sie werden der Autorität des Abtes von Clairmarais in der Filiation von Clairvaux unterstellt.

Das tägliche Leben ist dem vergleichbar, das man in den Abteien in den Gegenden der Niederlande führt. Alle drei Klöster haben Landwirtschaft; Annay und les Prés haben auch eine Brauerei. Während Annay Land besitzt, aus dem es lehensherrliche Grundrenten bezieht, hat die Abtei des Prés eine Windmühle. Beide Abteien haben auch eine Schule und Pensionärinnen, La Woestine vielleicht ebenfalls. In den Eroberungskriegen Ludwigs XIV. wurden die drei Abteien französisch.

Einige Daten während der französischen Revolution

2. November 1789: Das Kirchenvermögen wird durch die Nationalversammlung beschlagnahmt und der Nation zur Verfügung gestellt.

13.-19. Februar 1790: Durch Gesetz werden die feierlichen Gelübde abgeschafft und die Orden  und regulierten Kongregationen aufgehoben.

17. August 1792: Durch Erlass werden alle Kirchengüter zum Verkauf vor dem ersten Oktober freigegeben. Die Gemeinschaften der drei Abteien zerstreuen sich, wie die anderen auch; es ist das Exil.

 

2. Unsere drei Gründerinnen während der Revolution

Von der Abtei d’ ANNAY: Dame Humbeline Lecouvreur: 1750 – 1829, Profeß am 27. 8. 1769.  Sie flieht mit der Priorin, Dame Marie-Ghislaine DEFONTAINES, 72 Jahre, nach Magdendaele über Oudenaarde. Von den anrückenden französischen Armeen vertrieben, landen sie bei den Bernardinerinnen von Himmelpforten in Westfalen.

Von der Abtei des PRÉS: Dame Hippolyte Lecouvreur: 1747 – 1828, Profeß am 25. 8. 1766. Madame Henriette de Maes, die Äbtissin, geht unverzüglich nach Belgien, dann nach London, dort trifft sie mehrere Ordensfrauen der Abtei wieder, unter ihnen Dame Hippolyte. Sie eröffnen in Pentonville ein Pensionat für die Töchter französischer Emigranten.

Von der Abtei von LA WOESTIN: Dame Hyacinthe Dewismes, 1760 – 1840, Profeß am 18. 10. 1778. Sie geht alleine nach Belgien, findet eine erste Unterkunft in Hal bei den Grauen Schwestern, dann bei den Augustinerinnen in Bree und gelangt schließlich in die Abtei Rothem, wo sie  achtzehn Monate bleibt, nachdem sie den Habit und das Gemeinschaftsleben wieder aufgenommen hat. Das Vorrücken der Franzosen zwingt sie erneut zu fliehen. Schließlich gelangt sie zu den Bernardinerinnen von Himmelpforten wie die beiden Professen von Annay.

1796: Dame Marie-Ghislaine möchte wieder näher zu Frankreich, um sobald als möglich dorthin zurückzukehren. Ihre drei Schwestern gelangen nach Tilburg in Holland, dort eröffnen sie eine Handarbeitsschule.

1797: immerzu gedrängt von der Priorin von Annay, verlassen sie Tilburg in Richtung Frankreich und richten sich bei Douai ein. Dort eröffnen sie ein kleines Pensionat und bitten Dame Hippolyte, die in London im Exil lebt, und die Schwester von Dame Hombeline, zu ihnen zu kommen, um zu helfen. Zu viert lassen sie das Gemeinschaftsleben wieder aufleben. Als man sie „eingeladen“ hat, sich mit ihren Schülerinnen an einem Revolutions-Kult zu beteiligen, entscheiden sie sich, erneut zu gehen.

1798: Im Januar kommen sie mit zwölf Schülerinnen in einem verlassenen Schloss an, auf das man sie in Grimaretz aufmerksam gemacht hatte, über Esquermes, ein kleines Dorf im Umland von Lille. Dame Marie-Ghislaine stirbt dort im April.

 

3. Die wesentlichen Schritte hinsichtlich der offiziellen Anerkennung

Seit 1800 ist Bonaparte tatsächlich an der Macht und will die innere Ordnung wiederherstellen.

1804: Für die ungefähr sechzig Schülerinnen wird das Schloss zu klein. Es muss etwas anderes gefunden werden, zumal der Besitzer aus dem Exil zurückkehrt. Der Wille der Ordensfrauen ist ungebrochen: sobald als möglich ein Kloster zu errichten. Ihr einziger Wunsch ist: ihren Gelübden und ihrer Vergangenheit treu zu bleiben, im Hören und im Gehorsam gegenüber dem Heiligen Geist, der in diesen neuen, durch die Revolution und ihre Folgen bedingten Situationen zu ihnen spricht. Zu dieser Zeit erbrachte das Pensionat die nötigen Einkünfte zum Unterhalt der Gemeinschaft und der Schülerinnen.

1805: Ein Anwesen mit sechs Häusern und einer Herberge ist gekauft. Alles wird abgerissen, und am 1. August 1805 wird der erste Stein für das zukünftige Kloster gelegt. Der die Arbeiten leitende Wille ist deutlich sichtbar in der Anordnung der Bauten. Der Brief, den die Gründerinnen am 30. September 1820 an Mgr. Belmas senden, gibt davon Zeugnis: „…eine genügend große Kirche und ein geräumiges Haus, auf den zehn Hektar erbaut, auf denen sich mehrere Höfe oder Einfriedungen befinden, umgeben von ausreichend hohen Gebäuden und Mauern. Die besagten Gebäude enthalten Zellen, ein Dormitorium, ein Refektorium, einen Kapitelsaal, eine Wärmestube und andere regulare Orte…“ Die Kirche war von Anfang an eine monastische Kirche.

1805 Brief an Kardinal Caprara: „Drei Ordensfrauen, Professen des Ordens vom hl. Bernhard … bitten mit Rücksicht auf die Notlage demütig Eure Eminenz um Dispens vom Gelübde der Ordensarmut mit dem Ziel, in der Folge bewegliche und unbewegliche Dinge, die ihnen durch Erbschaft oder anderweitig zukommen, behalten und erwerben zu können und darüber auch im Todesfall verfügen zu dürfen“. Diese auf eigenen Namen erworbenen Güter werden dem Kloster am 6. Juli 1827 anlässlich der offiziellen Errichtung gesetzlich übereignet. Im Lauf der folgenden Jahre werden die „Gründerinnen“erleben, daß ehemalige Ordensfrauen aus ihren Ursprungsabteien kommen, um sich ihnen anzuschließen, ebenso ehemalige Schülerinnen.

1820: Am 28. April richten sie einen Brief an die Herzogin von Angoulême (Tochter von Ludwig XVI.), um sie „um ihren Beistand und Schutz für den Erfolg ihrer Unternehmung und der von ihnen ersehnten künftigen Beständigkeit“ zu bitten.

1820: Am 30. September senden sie einen Entwurf für die Statuten des zukünftigen Klosters an Mgr. Belmas, den Bischof von Cambrai. Sie bezeichnen sich als „Ordensfrauen vom Orden von Cîteaux“, wobei sie die Abstammung ihrer Abteien anführen: eine aus der Filiation von Cîteaux und zwei aus der Filiation von Clairvaux.

Weil es noch kein Gesetz gab, das zur Wiedererrichtung religiöser Gemeinschaften in Frankreich berechtigte, blieb die Bitte ohne Folgen. Dieses Gesetz wurde im Mai 1825 erlassen.

1825: Im Juni richten die drei „Gründerinnen“ eine Bittschrift an Mgr. d’Hermopolis, Staatsminister für kirchliche Angelegenheiten. In ihrem Bemühen, die offizielle Anerkennung zu erhalten, versuchen sie, zugunsten der Bitte für das Kloster die Nützlichkeit ihres Pensionates für die Religion und den Staat in die Waagschale zu werfen:

„Die besagten Damen… haben die Ehre, Eurer Excellenz darzulegen, dass sie, da Gott ihnen die Gnade geschenkt hat, ihren Gelübden treu zu bleiben, seit ungefähr 25 Jahren eifrig bemüht sind, sich zu vereinigen, um ihre Aufgabe besser erfüllen zu können, und der weiblichen Jugend eine christliche Erziehung zu geben. Das alles unter den Bedingungen, die unten angeführt werden: Ordensfrauen, die später dort ihre Gelübde ablegen, unterstellen sich der Beobachtung der Regel des hl. Benedikt, jedoch gemildert und abgeändert gemäss dem Brauchtum der Klöster der Bernardinerinnen, die im letzten Jahrhundert in den alten Provinzen von Flandern und Artois bestanden“.

Mgr. d’Hermopolis antwortet ihnen, dass sie sich direkt an den Bischof von Cambrai wenden müssten. Die Gründerinnen wenden sich also an Dom Ernest Roussel. Er ist Professe der Abtei Signy, (Studium am Bernhardskolleg, Doktorgrad an der Sorbonne) und hatte den theologischen Stuhl von Clairvaux von 1779 bis 1785 inne. 1786 ist er Prior in La Valroy. Die Revolution zwingt ihn, ins Exil zu gehen, und als er nach Frankreich zurückkommt, hilft er dem Weltklerus. 1821 wird er zum Großdekan von Roubaix ernannt. Er wurde eine unschätzbare Hilfe für das Studium und die Abfassung der geforderten Statuten, die nach dem Wunsch der drei Nonnen ganz mit der Zisterzien­sertradition im Einklang stehen sollten, mit einer Anpassung an ihre derzeitige Situation. Und er bringt ein nicht unwesentliches „Plus“ mit sich: er steht auf ausgezeichnetem Fuß mit Mgr. Belmas. Dieser verlangt eine ganze Reihe von Verbesserungen, und ein Jahr später verweigert er, nach einem reichlichen Briefwechsel, einfach seine Genehmigung.

1826: Am 13. Juni antworten die Gründerinnen Mgr. Belmas: „Die Regelungen, die Hochwürden von uns verlangen… bestehen bereits in den Gebräuchen von Cîteaux: ein bewundernswertes Buch… Leider besitzen wir zur Zeit kein Exemplar“. [Es folgen zehn Zeilen, die einen langen Abschnitt des Vorwortes der Usus von 1715 wörtlich zitieren].

„…Wir glauben jedoch, dass die derzeitigen Umstände uns nicht erlauben würden, alles vollständig zu befolgen, was dort vorgeschrieben ist, aber die Ausnahme würde, glauben wir, nur sehr wenige Artikel betreffen… Die Erfahrung wird uns noch Licht geben müssen, wenigstens während einiger Monate, damit wir in allem klar sehen können, was mit unserer jetzigen Situation vereinbar ist und was nicht.“

Sie bitten dann, dass Dom Roussel ihnen als Oberer und Führer gegeben werde. Die ersten, im Juni 1826 abgefassten Statuten, die den festen Willen der Bernardinerinnen ausdrücken, lauten so:

Die Damen Bernardinerinnen von Esquermes bilden eine besondere Gemeinschaft unter dem Namen Notre-Dame de la Plaine. Sie werden die Regel des hl. Benedikt, abgeändert gemäss den Erfordernissen der gegenwärtigen Umstände, und die alten, anerkannten Bräuche befolgen.“

Die endgültige Version, die approbiert werden konnte, war folgende:

„Die Damen Bernardinerinnen von Esquermes haben zum Ziel [!] die kostenlose Unterweisung armer Kinder und die Erziehung junger Mädchen“.

Dame Hippolyte setzt dem eine klare und bestimmte Ablehnung entgegen: sie wird dieses Statut, das zu sehr im Widerspruch steht zu ihrem tiefsten Willen, nicht unterzeichnen. Es bedarf der ganzen Diplomatie der Freunde des Klosters, die ihr versichern, dass sie alles, an dem sie festhält, in einem „inneren Reglement“ wird finden können, und dass eine gesetzliche Anerkennung sehr eilig sei, weil nur sie Hoffnung gibt auf eine mögliche Zukunft. Zuletzt unterschreibt sie widerwillig.

1827: Am 7. April werden die Statuten durch den Minister für kirchliche Angelegenheiten bestätigt.

Am 22. April genehmigt Karl X. die Errichtung eines Zisterzienserinnenklosters, dem ein Pensionat für junge Mädchen und eine kostenlose Schule für die Kinder von Esquermes angeschlossen sind..

Am 9. Mai senden die Gründerinnen das „innere Reglement“ an den Bischof.

Artikel 1: Die Damen Bernardinerinnen von Esquermes befolgen die Regel des hl. Benedikt, die sie besonders studieren müssen, um deren Geist gut zu erfassen und ihre Lebensführung danach auszurichten.

Artikel 2: In allen ihren regularen Tätigkeiten, bei allen ihren religiösen Zeremonien und der Feier der Gottesdienste in der Kirche haben sie als Regel und Führung die Gebräuche von Cîteaux, wie sie im französischen Rituale für die Zisterzienserinnen angegeben sind.

Der Bischof bestätigt es am 17. Mai; am 18. Mai 1827 präsidiert Dom Roussel bei der Errichtung des Klosters Notre Dame de la Plaine in Esquermes.

            Fünf Schwestern, einschließlich der Gründerinnen, können erneut den Zisterzienserhabit tragen, und ein Jahr später, am 10. Juni 1828, legen sieben Schwestern Profess ab.

1827: 15. Juli: Da die Revolution Cîteaux und das Generalkapitel aufgehoben hatte, ist eine rechtliche Anerkennung von dieser Seite unmöglich. Trotzdem nimmt die Gemeinschaft sogleich Kontakt mit den nächstgelegenen Zisterziensern auf. Sie bitten den Vater Abt der Abtei du Gard, Dom Germain, um eine „spirituelle Assoziation“ zwischen seiner Abtei, dem Kloster von Mont-des-Cats, und dem Kloster von Esquermes. Die Assoziations-Urkunde, unterzeichnet von Dom Germain und Pater Bernard, dem Prior von Mont-des-Cats, wird am 17. Juli 1827 nach Esquermes geschickt.

 

4. Wichtige Daten

1832: Herr Martin kommt nach Esquermes als Rektor. Dame Hyacinthe gibt ihm den Titel „Monsieur le Directeur“, wie das in ihrer alten Abtei von Woestine Brauch war.

1838: Dame Gérarde wird im Alter von 27 Jahren Priorin. Sie wird dreimal wiedergewählt werden: von 1838 bis 1850, von 1858 bis 1870 und von 1874 bis 1876.

1842: Mgr. Giraud, der neue Erzbischof von Cambrai, beauftragt Herrn Martin, die Regel abzufassen, die er sich bereits für die Bernardinerinnen ausgedacht hat.

1850: Die vorläufige Regel wird von Mgr. Giraud kurz vor seinem Tod bestätigt.

1853: Die „definitive“ Regel, die bis 1903 in Gebrauch sein wird: Mgr. Régnier, der neue Erzbischof von Cambrai, bittet Herrn Martin, den vorläufigen Text erneut durchzusehen und zu kürzen. Diese Bitte wird „mit Mühen und Schmerzen“ aufgenommen, und der Widerstand ist so groß, dass der Bischof in eigener Person ins Kloster kommt, um die verschiedenen Ansichten miteinander zu versöhnen. Er hört die Gemeinschaft an, die so viel wie möglich vom Geist der Regel des hl. Benedikt in den Text packt, ohne diese ausdrücklich zu zitieren. Am 1. Juni 1853 übergibt Monseigneur selbst der im Kapitel versammelten Gemeinschaft die Regel. Obgleich im Vorwort (das er selbst abgefasst hat), der zisterziensische Ursprung der Gemeinschaft erwähnt wird, findet sich keine Erwähnung der Regel des hl. Benedikt und der Gewohnheiten der Zisterzienser in dem Text. In Abwesenheit jeglicher zisterziensischer Autorität können die Bernardinerinnen nichts anderes tun, als diese Regel anzunehmen, die entschlossen versucht, die Strukturen einer neuen Kongregation einzuführen, die der Welt und der Frömmigkeit ihrer Zeit angepasst ist.

 

5. Zwei markante Persönlichkeiten

Herr MARTIN

Er wurde 1804 geboren und 1829 zum Priester geweiht. Da er von sehr gebrechlicher Gesundheit ist, bittet er um eine Stellung, die dieser Schwäche Rechnung trägt. Am Vorabend von Allerheiligen 1832 kommt er in Esquermes an und stirbt dort am 1. November 1879. Seit seiner Ankunft im Kloster hat er den Willen, etwas Neues zu schaffen, während die Gemeinschaft ihren zisterziensischen Wurzeln und ihrer monastischen Berufung fest verhaftet bleibt. Alle Uneinigkeit zwischen Herrn Martin und den Bernardinerinnen hat hierin ihren Ursprung, es ist das innerste Wesen des Lebens der Gemeinschaft, das hier in Frage gestellt ist. Die Bernardinerinnen schätzen seine grenzenlose Selbstlosigkeit und seinen spirituellen Wert, aber die von den „Gründerinnen“ ersehnte Lebensweise hat er nie verstanden. Er war überzeugt, dass „der Kern kostbarer sei als die äußere Form, und dass man sich vor allem und über alles fest an den religiösen Geist und an die Praxis solider Tugenden halten müsse, ohne sich zu sehr mit der Filiation von Cîteaux zu beschäftigen“. Er sah es auch als seine Pflicht und besondere Sendung an, der Gemeinschaft eine neue Regel zu geben. Trotz seiner tiefen Anhänglichkeit an die Gemeinschaft und die Schülerinnen, trotz seiner unablässigen Arbeit für sie, klaffte ein Abgrund zwischen seinen Vorstellungen vom Ordensleben und denen der Gemeinschaft.

            Nach dem Tod der letzten Gründerin (1840) und von Mgr. Belmas (1841) glaubte Herr Martin „dass der Moment gekommen sei, um etwas Endgültiges festzusetzen“ und bat den neuen Bischof von Cambrai um die Erlaubnis, das auf die Beine zu stellen, was er für eine moderne Regel hielt.

Dame GÉRARDE

In der Dekade von 1840-1850 und während ihrer weiteren Amtszeiten als Priorin trug sie die Bürde zu sehen, dass das wirkliche Charisma ihrer Gemeinschaft vom Hauskaplan nicht verstanden wurde und seinetwegen auch nicht vom Erzbischof von Cambrai. Sie konnte sich nicht ausdrücklich und wirksam den Ansichten des Rektors widersetzen, dessen Autorität bekannt und überall geachtet war. Dennoch mühte sie sich mit allen möglichen Mitteln dafür ab, im Leben der Gemeinschaft den Geist von Cîteaux zu bewahren.

Wer ist Dame Gérarde? Sie wurde am 2. Dezember 1811 geboren und war von 1826 bis 1827 im Pensionat von Esquermes. Im Januar 1832 tritt sie in das Noviziat ein und legt am 17. Juli 1833 Profess ab. Sie ist eine starke Persönlichkeit mit einem weiten Blick, auch mit organisatorischem Geschick, natürlicher Autorität und warmherziger Aufmerksamkeit für jeden; Qualitäten, die beseelt werden durch ein intensives und tiefgründiges spirituelles Leben. Die Gesamtzeit ihrer Priorate (26 Jahre) und das Amt einer Vertrauensperson („maîtresse de confiance“)von 1850 bis 1858 erlauben ihr, einen direkten und tiefen Einfluss auf die Schwestern der Gemeinschaft und auf die Schülerinnen auszuüben, von denen einige in das Noviziat eintreten: sie übermittelt das zisterziensische Erbe, indem sie es lebt und durch ihre Weise, andere zu führen, nicht nur schriftlich, sondern leibhaftig.

Die beiden Positionen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

            Auf der einen Seite Herr Martin: Für ihn ist das Wesentliche, den Anforderungen des Unterrichts und der Erziehung nachzukommen. Die Regel des hl. Benedikt und die Usus werden nur in dem Maß übernommen, als sie mit diesen Anforderungen vereinbar sind.

            Auf der anderen Seite die Bernardinerinnen: für sie ist das Wesentliche, die Regel des hl. Benedikt und die Usus von Cîteaux unversehrt zu bewahren. Darum müssen die durch die Umstände geforderten Ausnahmen festgelegt werden.

Auszug aus einem Brief von Herrn Martin 1855 an den Stiftsherrn Robert, Hausgeistlicher der Bernardinerinnen von Belley:

„Seit den Tagen meiner Priesterweihe hat mich Gott zu den Galeeren verdammt, d.h. dazu, mein priesterliches Leben mitten unter Frauen verbringen und gegen den Wind ihrer Ideen  rudern zu müssen. Doch nach meiner fünfundzwanzigjährigen Erfahrung und in Erinnerung der Schwierigkeiten, denen ich begegnet bin, halte ich die Erfüllung Ihrer frommen Wünsche für sehr schwierig. Wahrscheinlich wird sich ein böses Dilemma vor Ihnen auftun, ohne daß eine Lösung sichtbar wäre: es ist unmöglich, die Observanzen von Cîteaux mit den erdrückenden Arbeiten und Sorgen der Erziehung zu verbinden; es ist ebenso unmöglich, die an ihrem Orden hängenden Ordensfrauen davon zu überzeugen, dass es zu ihrem Nutzen ist, sich zu wandeln, mit einer achtbaren Vergangenheit zu brechen und Traditionen abzulegen, die sie vielleicht für wesentlich halten. Sehen Sie in meinen Worten nichts weiter als die Mitteilung eines alten Fährmannes, der Schiffbruch erlitten hat“.

Worte von Dame Gérarde:

„Man muss zu einer Seele des Gebetes werden, die in fortwährender Kommunikation mit Gott steht, man muss viel beten, Gebet im eigentlichen Sinn; je mehr man betet, um so mehr liebt man das Beten. Oh! Das Gebet! Wer wird mir sagen, was es erreicht, oder vielmehr, was es nicht erreicht!“

„Je mehr man den Guten Gott zu lieben wünscht, um so mehr Gelegenheiten findet man, ihm zu gefallen, etwas für ihn zu tun. Ein Herz, das liebt und in der Liebe zu wachsen wünscht, ist erfinderisch darin, die Mittel zu entdecken“.

„Die Hauptsache ist, Gott zu lieben, und der Wunsch, ihn zu lieben, heißt schon, ihn lieben, zu fühlen, dass man ihn nicht genug liebt, ist ihn lieben“.

„In Gott lieben heißt, die Nächstenliebe haben; danach trachten, sich für Gott liebenswürdig zu machen heißt, der Nächstenliebe zu dienen“.

Am 6. Mai 1883 sagt sie im Krankenviertel von Esquermes zu Jungprofessen:

„Meine Kinder, seid heilige Ordensfrauen, ohne Grenzen, ohne Mass. Seid heilig in allem: alles kann euch heiligen: einer Mitschwester mit Sanftheit und Höflichkeit eine Tür zu öffnen, ist eine verdienstvolle Tat, wenn ihr zur gleichen Zeit euer Herz zu Gott erhebt, wenn ihr in eurer Schwester Gottes geliebtes Geschöpf seht, eine Geliebte Jesu, in der er lebt und die er liebt. Seid immer voll Achtung, Rücksicht und Liebenswürdigkeit zu einander, seid liebenswürdig aus Tugend, wenn ihr es nicht von Natur aus seid. Die Höflichkeit ist die äußere Form der Nächstenliebe: „die äußere Form bewahrt den Kern“, sagte die Ehrwürdige Mutter [Dame Hyacinthe] oft. Seid in der Kirche ganz gesammelt, nicht nur innerlich, sondern auch nach außen. Vermeidet die Überstürzung und schroffe Bewegungen; seid euch beim Gesang bewusst, dass ihr den Dienst der Engel erfüllt“.

Dame Marie-Elisabeth Meurisse (1838-1894) überlieferte die folgenden Worte von Dame Gérarde:

 „Wir wollen immer diese kostbaren Spuren [das wenige, das uns von den alten Usus von Cîteaux verblieben ist] hüten, unseren heiligen Vorfahren nachfolgen. So fern wir auch sein mögen, zuinnerst und im tiefsten Grunde unseres Herzens halten wir uns an Cîteaux, an den hl. Bernhard, an diese ganze Schar großer heiliger Männer und Frauen! Lasst uns immer glücklich sein, wenn die Dornen der Erziehungsarbeit uns ihre Spitzen fühlen lassen: es ist eine kleine Entschädigung für das, was wir opfern mussten“.

 

6. Rückkehr zu unseren Wurzeln                          

Im Jahre 1890 kommt Dom Sébastian Wyart einige Male in das Kloster. Im Oktober 1895 schlägt er der Gemeinschaft den Anschluss an den Zisterzienserorden vor und zeigt auf, was dafür zu tun wäre. Am 13. Februar 1897 wird das Dekret der Angliederung den Orden von Cîteaux von Rom unterzeichnet, und im folgenden Jahr besucht Dom Sébastian erneut die Gemeinschaft, um ihr mitzuteilen, dass die Affiliation anerkannt ist, dass man aber noch die Konstitutionen, das heißt die Regel von 1853, bestätigen lassen müsse. Am 14. März 1900 widerruft ein anderer Erlaß das Dekret, das uns dem Orden angegliedert hatte!

Warum? Weil die Regel von Herrn Martin feststellt, „das Ziel ist die Erziehung“, während das Ziel des Mönchslebens das Gottsuchen ist und die Regel von 1853 nichts von einer monastischen Regel an sich hat: wie ihr Autor es wollte, ist sie die Regel einer modernen Kongregation.

1900-1903: wieder einmal ist die Zukunft der Bernardinerinnen eng mit den politischen Zeitumständen verknüpft.

            Seit 1883 hat der Antiklerikalismus in Frankreich Esquermes dazu geführt, „Refugien“ zu gründen, zuerst in Belgien, dann in England. In Unkenntnis der Ursprünge von Esquermes, und weil man nur die Regel von 1853 und die jüngsten Gründungen sieht, werden die Bernardinerinnen als Kongregation von Schwestern mit einfachen Gelübden eingestuft.

Die Zeiten waren unsicher, und um die Einheit mit den „Refugien“ zu retten, gibt es nur eine Lösung: die römische Approbation zu erbitten, was die Annahme der gestellten Bedingungen erfordert. Die Konstitutionen von 1903 sind veröffentlicht und 1909 endgültig approbiert. Die unvorhergesehene Ausweisung der Ordenskongregationen aus Frankreich im Jahre 1904 zerbricht plötzlich den starken Zusammenhalt, der sich während eines Jahrhunderts in Esquermes gehalten hatte. Die Einheit wird gerettet durch die Zentralisierung und den Geist der Carta Caritatis.

Das kanonische Gesetzbuch von 1917 gibt den durch die politischen Umstände ihrer feierlichen Gelübde beraubten Ordensfrauen den Namen „Moniales“ zurück. Das belebt die Hoffnung der Bernardinerinnen von Esquermes, ihre wahre Identität öffentlich anerkannt zu sehen. Das geschieht durch das Dekret vom 5. April 1955. Ein Dekret vom 31. Mai 1961 bestätigt, dass die Monialen von Esquermes einen Orden von Zisterzienser-Nonnen bilden, genannt „Bernardinerinnen von Esquermes“. Die Konstitutionen wurden 1982 approbiert.

 

Fragen als Hilfe zum Nachdenken                                                                                                                     

1. Die Nonnen, die das Zisterzienserleben in Esquermes weitergegeben haben, stellen uns in Frage durch ihre Art, eine schwere Krise zu durchschreiten und wieder zu beginnen, ohne Unterstützung durch traditionelle Strukturen, und durch ihre Fähigkeit, die vor der Krise tief assimilierten Werte weiterzugeben.

Wären wir in der Lage, das Gleiche zu tun?

2. Wie kann man bei einer Krise unterscheiden, was von unseren Observanzen unbedingt bewahrt werden muss und was zweitrangig ist?