Dom Olivier Quenardel

1. Vortrag

Die Bedeutung des Begriffes „Pietas“ im  „Gesandten der göttlichen Liebe“

 

Wenn man den Prolog des Gesandten der göttlichen Liebe  liest, erkennt man zur Genüge, wie wichtig es ist, welchen Titel ein Werk trägt und wie es zu diesem Titel kam. Tatsächlich hat der Herr selbst dem Werk seinen Titel gegeben, wie ein Kind seinen Namen von seinen Eltern empfängt. Im Original lautet er so:  Legatus memorialis abundantiae divinae pietatis, d.h. Gesandter der göttlichen Liebe. Dabei hat jedes Wort seine Bedeutung, aber der Begriff, auf den sich ganz besondere Aufmerksamkeit richtet, ist ohne Zweifel Pietas[1]. Dieses Wort ist der lateinischen Sprache und der christlichen Tradition teuer, aber es ist schwierig, es in einer Übersetzung einzufangen. Wer erfahren will, was pietas im Gesandten der Göttlichen Liebe bedeutet,  muss sich mit ihm beschäftigen. Die Arbeit ist vielleicht etwas trocken, aber sie ist der Mühe wert.

 

Der Gesandte verwendet das Wort pietas 242mal. Der Gebrauch teilt sich so auf die einzelnen Bücher auf:

Prolog:            8 mal auf         5 Seiten (Ausgabe der Sources Chrétiennes)

Buch 1:           20 mal auf       52 Seiten

Buch 2:           44 mal auf       63 Seiten

Buch 3:           62 mal auf       167 Seiten

Buch 4:           50 mal auf       235 Seiten

Buch 6:           57 mal auf       130 Seiten

Missa:             1 mal auf         12 Seiten

 

Diese Zahlen zeigen deutlich, dass sich die größte Dichte der Verwendung des Wortes pietas im Bezug auf die Seitenzahl im 2. Buch findet. Wir wissen aber auch, dass das zweite Buch das einzige ist, das ganz aus der Hand Gertruds stammt. Auch der Prolog lenkt mit 8maliger Verwendung auf 5 Seiten die Aufmerksamkeit des Lesers auf dieses allgegenwärtige Manna, das „ihn ein wenig im Voraus verkosten lässt, was die übergroße Liebe Gottes schenken wird“.  Nach einer solchen Feststellung scheint es nicht möglich zu sein, die Bedeutung von pietas zu ergründen, ohne sich die Zeit zu nehmen, das sprachliche Umfeld der 242 Stellen, die wir genannt haben, zu untersuchen. Was ist das Resultat einer solchen Untersuchung?

 

A.   DAS UNMITTELBARE LITERARISCHE UMFELD VON „PIETAS“

 

Wie die Zwischenüberschrift angibt, richtet sich unsere Aufmerksamkeit nicht auf das weitere Umfeld von pietas, sondern auf das unmittelbare Umfeld. Das heißt: Unsere Untersuchung lässt eine ganze Reihe von Hauptwörtern beiseite (wie amor, caritas, bonitas, suavitas, sapientia, misericordia, miseratio, compassio, dignatio, delectatio, deliciae usw.) die doch alle einen Bezug zu pietas haben und im Gesandten häufig vorkommen, die aber meiner Meinung nach weniger Gewicht haben als eine andere Zusammenstellung, die nur aus einem einzigen Hauptwort, 8 Eigenschaftswörtern und 2 Zeitwörtern besteht:

1.     Abundantia  ist dieses Hauptwort, das eine bevorzugte Stellung einnimmt. Es ist praktisch das einzige Hauptwort, das unmittelbar in der Umgebung von pietas steht. Man muss sich erinnern, dass es ein wesentlicher Teil der Überschrift des Gesandten ist: Legatus memorialis abundantiae divinae pietatis.  Deshalb weiß man gleich von Anfang an: die pietas hat als Kennzeichen den Überfluss. Den Überfluss, der an mehreren Stellen sogar zum Über-Überfluss (superabundantia) wird. Wir sind hier in der Ordnung der Maße und Mengen. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es bei der pietas keinen Mangel.

2.     Bei den acht Eigenschaftswörtern, die die pietas kennzeichnen, liegt unbestreitbar das Wort divina mit 55 Stellen an der Spitze, gefolgt von gratuita (26 Stellen),  incontinens (14 Stellen), supereffluens (13 Stellen), benigna (12 Stellen), liberalis  (10 Stellen), dulcis (10 Stellen) und largiflua[2] (8 Stellen). Wenn man diese grundlegende Wortreihe mit einer anderen Reihe von Eigenschaftswörtern verbindet, die auch in unmittelbarem Zusammenhang mit pietas stehen,  aber etwas zurücktreten, z.B. inaestimabilis, ineffabilis, immensa, ingenita, indeficiens, naturalis, mellea,  dann sieht man, wie sich rund um die göttliche Liebe (divina pietas) ein Hof bildet, der aus reiner Gnade besteht (gratuita, liberalis). Dieser Hof ist so groß und weit, dass er sich nicht abmessen und einfangen lässt (immensa, largiflua, inaestimabilis, ineffabilis, indeficiens, supereffluens).  Es liegt in der Natur Gottes selbst, dass man ihn nicht eingrenzen kann. Und man erkennt, dass dieser reiche Gnadensegen die Eigenschaften der Güte (benigna) und Liebenswürdigkeit (dulcis, mellea[3]) hat, die sich uns in Jesus Christus geoffenbart haben.

3.     Zwei Zeitwörter: cogere und confidere stehen ebenfalls ganz nahe bei der pietas. Das erste bezieht sich auf das Wirken der pietas in Gott selber, das zweite auf die Bedingungen, die beim Menschen erforderlich sind, damit er die göttliche Liebe (divina pietas) annehmen und von ihr beschenkt werden kann. Wir werden dem einen und dem anderen bei den weiteren Nachforschungen wieder begegnen.

 

 

B.   DIVINA PIETAS

 

Der Gesandte feiert die pietas  als Attribut Gottes sehr intensiv. Auch hier weist der Titel schon von Anfang an den Leser darauf hin, dass er nicht erwarten darf, im Gesandten eine gleichmäßige Verwendung des Wortes pietas anzutreffen, das sich das eine Mal auf Gott, das andere Mal auf den Menschen bezieht. Die ganz seltenen Ausnahmen, bei denen das Wort vom Menschen ausgesagt wird, sind im Gegenteil ein offenkundiger Beweis dafür, dass das ganze Gewicht der pietas auf Gott ruht, genauer noch auf Jesus Christus[4]. Die göttliche Liebe (divina pietas), die sich in Jesus Christus offenbart,  ist das ureigenste Göttliche am Göttlichen. Die Zahlen selbst können uns davon überzeugen: Von den 242 Stellen, die wir gefunden haben, beziehen sich bloß 24 nicht direkt auf Gott. Sie verteilen sich in folgender Weise: 12 beziehen sich auf die Jungfrau Maria, 6 auf Gertrud selbst, 2 betreffen die Äbtissin Gertrud von Hackeborn, 1 eine verstorbene Ordensschwester, 1 die Töchter der Äbtissin Gertrud von Hackeborn, die nach ihrem Tod mit kindlicher Liebe um sie trauern, 1 betrifft die „Übungen der pietas“, und die letzte Stelle meint emotionelle Regungen (pietas), vor denen sich der Mensch in Acht nehmen muss.

 

Diese 24 Stellen, in denen sich pietas  auf jemanden anderen als Gott bezieht, fordern zu einigen Bemerkungen heraus:

  1. Zuerst muss man feststellen, dass man nicht sagen kann,  die pietas, die  jemanden anderen als Gott meint, sei schon deshalb nicht göttlich, divina. Im Gegenteil: Man hat den Eindruck, dass es dabei so sehr um das geht, was in Gott und Jesus Christus das Göttlichste am Göttlichen ist, dass nur solche Menschen daran vollen Anteil haben können, die kein Hindernis mehr von der vollkommenen Hingabe trennt. Hier sind dabei vier Frauen angesprochen: Die Jungfrau Maria, Gertrud selbst, die Äbtissin Gertrud von Hackeborn und eine verstorbene Ordensschwester. Man muss auch feststellen, dass diese vier Frauen die trennende Schwelle des Todes überschritten haben. Muss man daraus ableiten, dass  das Loblied auf ihre pietas nur um den Preis dieses Pascha gesungen werden konnte?
  2. Man muss auch der Tatsache große Aufmerksamkeit schenken, dass die pietas trotz der sechs Stellen, in denen sie sich am Gertrud bezieht, nicht unter den Tugenden Gertruds aufscheint, wie sie uns die große Freske von Kapitel 5 bis 12 des ersten Buches zeigt, wo von ihrer suavitas, humilitas, caritas usw. gesprochen wird.
  3. Eine andere Feststellung von nicht geringer Bedeutung: In dem 4. Buch, das im Besonderen den Festen gewidmet ist, wird nie die pietas der Heiligen gerühmt, mit Ausnahme der Jungfrau Maria.

 

Aus diesen Bemerkungen ergibt sich noch überzeugender, dass der Gesandte eine große Darstellung der göttlichen Liebe (divina pietas) ist,  die sich uns als die kennzeichnendste Eigenschaft der Liebe Gottes darstellt. Man könnte fast sagen, pietas sei hier eine Art Eigenname für Gott, was der Liebe die Möglichkeit gibt, ihre Identität mit einer überraschenden und unvergleichlichen Virtuosität zu variieren.

 

C.   INCONTINENTISSIMA PIETAS

 

Vierzehnmal wird die göttliche Liebe (divina pietas) im Gesandten als incontinens bezeichnet, davon sechsmal im Superlativ: incontinentissima . Das ist wenig, könnte man sagen, und das wäre richtig, wenn wir nicht bereits im unmittelbaren sprachlichen Umfeld von pietas die Aussage vom Überfluss und sogar vom Über-Überfluss gefunden hätten. Incontinens und  abundantia, incontinentissima und superabundantia nähern sich so einem „Zu-viel“, dem Gott keinen Widerstand entgegensetzt. Zu groß ist die pietas Gottes, als dass er sie zurückhalten könnte! Sie strömt über, so als ob er sie nicht beherrschen könnte. Wir stehen hier vor einer Wahrheit, die in der christlichen Tradition nicht neu ist, die aber die hl. Gertrud und ihre Vertrauten meisterhaft zur Darstellung bringen: Die Ohnmacht des Allmächtigen, die nur die Liebe zum Ausdruck bringen kann.

 

Das Zeitwort cogere, das auch im unmittelbaren sprachlichen Umfeld von pietas steht und das sich mit zwei anderen Zeitwörtern: compellere und devincere verbindet, bestätigt und bekräftigt, dass es in dieser Wahrheit Irrationales und Unvernünftiges gibt. Nicht nur, dass Gott seiner pietas keinen Widerstand entgegensetzt, sondern sie ist in ihm selbst sogar gewissermaßen Gegenstand eines Ringens, aus dem er zugleich als Besiegter (devictus) und Sieger hervorgeht.  Das ist das unerhörte Paradox, das der Gesandte der göttlichen Liebe darstellen möchte, damit der Leser sich ihm ausliefern kann, ohne ihm auch seinerseits irgendeinen Widerstand entgegenzusetzen.

 

D.   SUPEREFFLUENTIA DIVINAE PIETATIS

 

Ein Überfluss, der sich nicht zurückhalten lässt, führt unausweichlich zu einem Überströmen.  Das lässt das Eigenschaftswort supereffluens anklingen, das im Gesandten 13mal verwendet wird. Bisweilen als Eigenschaftswort (effluens), bisweilen im Superlativ (supereffluentissima), bisweilen auch als Hauptwort (supereffluentia) verwendet, gehört es ohne jeden Zweifel in das unmittelbare sprachliche Umfeld der göttlichen Liebe (divina pietas) und führt durch die eine Silbe „flu[5] ein Bild ein , das ganz grundlegend für das richtige Verständnis von pietas in der ganzen Botschaft Gertruds ist: das Bild des Strömens. Der Gesandte will nichts anderes, als seine Leser in die Ströme der göttliche Liebe (divina pietas)  hineinstellen, die am häufigsten mit dem Kennzeichen der Unendlichkeit versehen sind. Sie sind der unerschöpfliche Abgrund (abyssus)  der Zärtlichkeit Gottes, der Strom (torrens) der verheißenen Wonnen, der Ozean (pelagus), in dem man zu schwimmen lernen muss, die Überschwemmung (inundatio) des göttlichen Erbarmens. Gertrud findet nicht genügend Worte, um das Wirken dieser Wasser zu feiern, in die sie eintauchen und in denen sie untergehen möchte, ganz verschlungen in einen Tod aus Liebe, nach dem sie unablässig verlangt. Man kann es sich bewusst machen anhand des Gebetes in der 4. geistlichen Übung, in der sich in lyrischer Sprache, die voll von heftigem Liebesverlangen ist, sehr ausdrucksstarke Bilder des Strömens finden:

           

            „Wer bin ich, Gott, du Liebe meines Herzens? Weh mir, das ich dir so unähnlich bin!

Ich bin nur wie ein winziges Tröpfchen deiner Güte, und du bist ein Meer, ganz erfüllt von Liebenswürdigkeit. O Liebe, Liebe, öffne über mir kleinem Geschöpf den Schoß deiner Güte (pietas)! Lass den ganzen Wasserfall deiner väterlichen Güte über mich kommen! Brich alle Quellen deines großen, unendlichen Abgrunds über mir auf!  Versenke mich in die Tiefen deiner Liebe.  Ich möchte im Abgrund deiner unendlich barmherzigen Güte (pietas) untergehen. Ich möchte in der Flutwelle deiner lebendigen Liebesglut aufgehen, wie ein Meerestropfen in dessen  voller Tiefe. Ich möchte sterben, sterben im Strom deines unermesslichen Erbarmens wie ein Feuerfunke in einem Sturzbach erlischt. Das Träufeln deiner Liebe möge mich einhüllen. Der Kelch deiner Liebe möge mir das Leben rauben. Er führe den geheimen Ratschluss deiner weisen Liebe aus und verhelfe mir dazu, glorreich in deine lebendige Liebe hineinzusterben. Dort, ja dort will ich mein Leben in dich hinein verlieren, wo du ewig lebst, du meiner Liebe, du Gott meines Lebens. Amen.“ (Ex 4)

 

Nicht nur wegen der beeindruckenden Menge von Bildern über das Fließen hat dieses Gebet unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sondern auch, weil es beide Partner in dasselbe Umfeld von Symbolen stellt, die einander entsprechen. Gerade das Element des Wassers und des Fließens macht die Begegnung des Beters mit dem, zu dem er betet, möglich. Mit Hilfe der Bilder führt sie beide zur Vereinigung.  Es ist auffallend, dass sich die Beterin  als „winziges Tröpfchen deiner Güte“ betrachtet dem gegenüber , den sie als „Meer, ganz erfüllt von Liebenswürdigkeit“ anruft.  Die Symbole sind also bei jedem der beiden Partner die selben. Der Unterscheid kommt nur aufgrund der Größe zustande: auf der einen Seite steht das Winzige, auf der anderen das Unermessliche. Sowohl in den geistlichen Übungen wie auch im Gesandten findet man dieses Spiel der einander entsprechenden Symbole an mehreren Stellen.  Das geht bis zu den letzten Seiten des 5. Buches, wo sich Gertrud in einer Vision, die sich auf ihren nahen Tod bezieht, als ganz kleiner Tautropfen betrachtet (Buch 5,32),  während das ganze Werk seinen Abschluss findet und den Leser ein letztes Mal zu den „Strömen der Güte Gottes“ führt (Buch 5,36).

 

An diesem Punkt wäre es verfrüht, wollten wir beim Thema des Fließens noch weiter gehen. Wir werden am Ende noch einmal darauf zu sprechen kommen, wenn wir von den Wirkungen der eucharistischen Kommunion sprechen. Dann werden wir besser in der Lage sein,  die Verzweigungen und Vorteile dessen zu sehen, was wir hier nur als Prämissen stehen lassen.

 

E.   PIETAS ET CONFIDENTIA

 

Wenn uns der Gesandte einen Gott zeigt, der seine pietas nicht zurückhalten kann, hat er dann auch etwas darüber zu sagen, was Gott vom Menschen erwartet, damit dieser schon hier einen Vorgeschmack der göttliche Liebe (divina pietas) bekommen kann?  Wir nehmen eine dreifache Unterscheidung vor:

 

1.     Der Prolog zeigt uns sehr schnell, was nötig ist,  damit die Lesung des Gesandten für uns fruchtbar sein kann: „Wenn jemand in der Absicht, im geistlichen Leben voranzuschreiten, mit Hingabe in diesem Buch lesen möchte...“ (Prolog 2,9-10) Das wird ohne jede Verzerrung gesagt. Wir verstehen, dass die „rechte Absicht“ erforderlich ist.[6]  Man darf die Nuance nicht vernachlässigen, die der Begriff „devota“ als Beifügung zu „confidentia“ mit sich bringt, aber man muss dabei vorsichtig sein, denn man kann im 3. Buch 3,18 lesen, dass zwar die devotio einem Menschen fehlen kann,  dass Gott in seiner pietas ihm aber deswegen nicht schon seine Aufmerksamkeit und Hochachtung entzieht:

 

„Ich wünsche sehr, dass meine Heiligen mich nicht für grausam halten, sondern glauben, dass ich es für gut, ja vollkommen ansehe, wenn sie mir irgendeinen  Dienst erweisen, der sie etwas kostet. Zum Beispiel  dient derjenige Gott auf seine Kosten, der kein Gefühl der Hingabe empfindet, mir aber trotzdem in Gebet, Kniebeugen und ähnlichen Übungen dient und darüber hinaus auf die Güte Gottes (benigna pietas) vertraut, dass er das trotzdem  mit Wohlgefallen annimmt.“ (Buch 3,18)

 

2. Die göttliche Liebe (divina pietas), die  Gott, wie wir gesehen haben, nicht zurückhalten kann, braucht auf unserer Seite ein zugleich leeres und aufnahmefähiges Gefäß[7] für dieses maßlose Überströmen. Paradoxerweise kann sich die pietas  um so besser dem Menschen offenbaren, je mehr  sie ihn aufnahmebereit antrifft, fähig, sie aufzunehmen und festzuhalten. Darunter muss man anscheinend die continentia (d.h. die Beherrschung der Sinne) verstehen, die vom Menschen verlangt wird. So wenig Gott sich zurückhalten kann, um so größer muss die Fähigkeit des Menschen sein, die pietas  festzuhalten. Als Beweis dafür kann man zwei Stellen des Gesandten ansehen, die sehr eindrücklich sind:

·       Die erste gehört zum Charakterbild Gertruds: Vor dem Himmel, in dem Gott wohnt, steht die mira continentia Gertruds wie der Mond. (Buch 1,9)

·       Die zweite beschreibt eine Eingebung Gottes, die sie hatte: sie suchte eines Tages zu ergründen, warum die einen beim Officium überfließende geistliche Nahrung empfangen, während die anderen in der Trockenheit bleiben. Hier ist die Antwort des Herrn, die eine Vertraute Gertruds aufzeichnete:

 

„Das Menschenherz ist von Gott geschaffen , um die Freude festzuhalten, wie ein Gefäß das Wasser  festhält (continens aquam). Wenn aber winzige Löcher in diesem Gefäß das in ihm enthaltene  Wasser ( continens) ausfließen lassen,  kann es sein, dass das Gefäß schließlich ganz leer und trocken ist. So ergeht es auch dem Menschenherz beim Festhalten der Freude: Wenn es diese durch die körperlichen Sinne ausströmen lässt, beim Sehen oder Hören oder auch die anderen Sinne, wenn es tut, was diesen beliebt, kann es auch in diesem Maß die Freude verlieren und ganz ohne die Freude an Gott zurückbleiben. Das kann ein jeder bei sich selbst erfahren. Wenn er etwas sehen oder hören möchte, das nur wenig oder gar keinen Fortschritt bringt, und gleich nachgibt, dann schätzt er die geistliche Freude gering, denn sie strömt wie Wasser aus. Wenn er sich aber müht, sich aus Liebe zu Gott zu beherrschen, dann wächst sie im Herzen, so sehr, dass er sie kaum ertragen kann. Wenn der Mensch bei solchen Gelegenheiten gelernt hat, sich zu besiegen,  dann wird ihm die Freude an Gott vertraut. Und je größer die Mühe war, die er dabei auf sich nahm, desto fruchtbarer wird seine Freude an Gott sein.“ (Buch 3, 30)

 

Das Wort continere kommt in diesem Absatz fünfmal vor, der offensichtlich von derselben Begeisterung getragen ist wie der vorherige. Vielleicht stammt er auch von der selben Hand. In beiden Fällen handelt es sich um ein „Beherrschen“ (continere, continentia) der körperlichen Sinne, um die Freude in Gott zu bewahren. Aber wenn diese continentia fehlen sollte, führt das dann auch zu einem Fehlen der pietas? Der ganze Gesandte antwortet: nein, denn die göttliche Liebe (divina pietas) ist von der continentia des Menschen nicht mehr abhängig als von seiner devotio (Hingabe). Zweifelsohne tragen die continentia und devotio sehr dazu bei, dass man Gottes Liebe erfahren kann, doch  ist die pietas in dem Maß, als sie divina ist, auch gratuita (26 Stellen). Sie ist absolut frei, die Überfülle ihrer Fluten zu ergießen, wo sie will und wann sie will.

 

2.     Das unmittelbare sprachliche Umfeld der göttliche Liebe (divina pietas) bestätigt, dass es die confidentia (das Vertrauen) ist, was ihr Wirken am meisten begünstigt, oder umgekehrt: Ein Mangel an confidentia ist für sie das größte Hindernis. Ein Mangel an devotio (Hingabe) oder ein Mangel an continentia (Beherrschung der Sinne) berauben den Menschen zwar, wie wir gesehen haben, der Freude an Gott, aber sie hindern Gott nicht, das Werk seiner pietas am Menschen zu vollbringen. Dagegen kann ein Mangel an confidentia (Vertrauen) Gott zwar nicht hindern, das Spiel seiner pietas am Menschen zu wirken,, aber es verzögert zumindest die volle Entfaltung dieses Spiels. Man sieht das deutlich an einem Vergleich, den der Herr selbst zwischen der confidentia seiner geliebten Gertrud und dem Mangel an confidentia  bei einem anderen Menschen zieht:

 

„Wenn ich lange gezögert habe, dir die Gaben zu schenken, nach denen du verlangst, so geschah das deshalb, weil du wenig Vertrauen darauf hast, was meine ungeschuldete pietas in dir wirken kann. Im Gegensatz dazu ist meine Geliebte so tief im Vertrauen verwurzelt und stützt sich in allen Dingen allein auf meine Liebe (pietas), dass ich keine ihrer Bitten jemals enttäusche.“ (Buch 1,10)

 

Diese Stelle steht als Finale eines Kapitels, wo die confidentia der hl. Gertrud als erster Stern leuchtet. Er strahlt so hell, dass ihn die Redaktorin des ersten Buch mehr als eine „Gabe“ als eine „Tugend“ ansieht: „In welchem wunderbaren Grad  sie diese – sagen wir nicht Tugend, sondern eher - Gabe des Vertrauens besaß....“ (Buch 1,10)

 

Wir dürfen also nicht mehr daran zweifeln, dass das Vorhandensein oder Mangeln der confidentia (des Vertrauens) im Menschen anscheinend mehr als  alles andere – vor allem mehr als die devotio (die Hingabe) und die continentia  (die Beherrschung der Sinne) – die pietas divina beeinflusst. Ich möchte es noch an einem Beispiel zeigen, wo dieses Mal nicht der Mangel der confidentia die pietas Dei lähmt, sondern die unerschütterliche confidentia  des Menschen so viel Macht hat, dass das Herz Christi  davon richtig durchbohrt wird:

 

„Am Tag der heiligen unschuldigen Kinder wurde sie bei der Vorbereitung auf die Kommunion durch ungestüme Gedanken behindert und rief deshalb zu Gott um Hilfe. Da empfing sie vom liebevollen Erbarmen Gottes folgende Antwort: ‚Wenn jemand, von menschlicher Versuchung angefochten, in festem Vertrauen unter meinen Schutz flieht, so gehört er zu jenen, von denen ich sagen kann: Einzig ist meine Taube, auserwählt unter den Tausenden, die mit einem einzigen Blick ihrer Augen mein göttliches Herz verwundet. Das trifft mich so stark, dass ich, falls ich ihr nicht helfen könnte, in meinem Herzen so traurig wäre, dass alle Freuden des Himmels mich nicht trösten könnten. Denn in meinem Leib, der mit der Gottheit vereinigt ist, haben die Auserwählten allezeit einen Fürsprecher, der mich zwingt, mit ihnen in ihren Bedürfnissen Mitleid zu haben.’ Darauf sagte sie: ‚Auf welche Weise, mein Herr, kann dein unbefleckter Leib, in dem du nie einen Widerspruch empfandest, dich zum Mitleid in unseren mannigfachen Bedrängnissen zwingen?’ Der Herr antwortete: ‚Wenn jemand darüber nachdenkt, wird er es leicht verstehen. Denn der Apostel sagt von mir: Er musste in allem den Brüdern gleich werden, um barmherzig zu werden’ Und der Herr fügte noch hinzu: ‚Der eine Blick meiner Auserwählten, mit dem sie mein Herz verwunden, ist  das zuversichtliche Vertrauen. Sie muss glauben, dass ich wahrhaft die Macht, die Weisheit und den Willen habe, ihr in allem treu zur Seite zu stehen. Dieses Vertrauen tut meiner Liebe eine solche Gewalt an, dass ich mich ihm niemals entziehen kann.’ Hierauf sagte Gertrud: ‚Mein Herr, wenn das Vertrauen ein so sicheres Gut ist, dass niemand es besitzen kann, wenn du es ihm nicht schenkst, worin besteht dann der Fehler jener, die es nicht haben?’  Darauf entgegnete der Herr: ‚Jeder kann seinen Kleinmut bloß aufgrund des Zeugnisses der Heiligen Schrift schon einigermaßen besiegen.  Und wenn auch nicht aus ganzem Herzen, so kann er doch wenigstens mit dem Mund zu mir sprechen wie Ijob: Selbst wenn ich in den Tiefen der Hölle versunken wäre, würdest du mich von dort befreien, und: Selbst wenn du mich tötest, werde ich dennoch auf dich hoffen – und Ähnliches:“ (Buch 3,7)[8]

 

Was dieser Seite ihren besonders ergreifenden Charakter gibt, ist, dass sich die Liebe Gottes (pietas Dei ) selbst durch die confidentia geschlagen gibt. Während wir gesehen haben, dass diese pietas in Gott selbst zu einem Kampf führt, aus dem er geschlagen hervorgeht, so wird sie hier sogar durch die confidentia eines Menschen besiegt. – und zwar so sehr besiegt, dass das göttliche Herz Jesu Christi davon durchbohrt wird. Heißt das endgültig, dass der Mensch über Gott triumphiert? Ja, sagt das „auserwählte Kind“ (prolis electa), das wir gehört haben. Es ist die Kraft der Liebe, die sich durch das Vertrauen des Geliebten geschlagen geben möchte.  Gott setzt ihr keinen Widerstand entgegen. Er lässt sein Herz davon durchdringen, er verströmt sich, und Fluten seiner pietas ergießen sich in das Tal der Menschheit, wie groß auch ihr Elend sein mag. (Buch 2,11)

 

Das sind die auffallendsten Züge der pietas, die uns der Gesandte kündet. Um ihre originellen Züge noch mehr herauszustellen, müsste man die kulturelle, patristische und liturgische Tradition untersuchen, in der die heilige Gertrud und die Schwestern von Helfta lebten. Man würde dann erkennen, dass ihre Art und Weise, von der pietas als der Liebe Gottes zu sprechen, ganz sicher zu den typischsten Zügen ihrer Botschaft gehört.

 

 



[1] Das lateinische Wort „pietas“ lässt sich im Deutschen nur schwer durch ein Wort übersetzen. Es bedeutet „Liebe“, wobei die Nuancen von Güte, Zärtlichkeit, Treue usw. mitschwingen.

[2] Manchmal nehmen diese Adjektive auch die Form eines Substantivs an: supereffluentia, liberalitas, dulcedo. Bisweilen begegnet man ihnen auch im Superlativ: incontinentissima, supereffluentissima, liberalissima, benognissima,, dulcissima, Das ist für den Stil von Helfta typisch. Vgl. P. DOYERE, Einleitung zum Gesandten in SC 139,25f.

[3] Das Wort dulcis bezieht sich auf die Berührung und das Verkosten. Es bildet das Umfeld, das im Gesadnten im Gefolge des hl. Bernhard die Bilder vom fließenden Honig (mellea, melliflua) aufsteigen lässt. Vgl. die Einführung in den Gesandten in SC 139, 27.

[4] Wenn der Wort pietas nicht durch divina gekennzeichnet ist, dann steht es sehr oft zusammen mit einem Possessivpronomen (mea, sua) Im Gesandten zählt man 111 Stellen, wo pietas mit einem Possessivpronomen steht, davon kommt im 2. Buch die Wendung pietas tua  29mal vor. Ob nur die pietas durch divina oder ein Possessivpronomen gekennzeichnet ist, fast immer handelt es sich um die pietas des Herrn Jesus Christus.

[5] Von „fluo, fluere -  fließen, sich ergießen“ leiten Gertrud und die Schwestern von Heflta das Vokabular des Strömens ab. Oft steigern sie die einfachen Adjektive noch, so dass die pietas dann nicht nur  supereffluentissima, (wörtlich: am über-überströmendsten), sondern dazu noch largiflua (wörtlich: weit auseinanderfließend) (8 Stellen), oder melliflua, (wörtlich: fließend wie süßer Honig) suaviflua usw. wird.

[6]  Die rechte Absicht ist das Gegenteil von „nutzloser Neugier“, die der Herr im 5. Buch 34 aburteilt: „Wer von nutzloser Neugier getrieben ist, geht rückwärts und beugt sich über meine Schulter, um den Text meines Buches verkehrt zu sehen und zu lesen. Ich werde das Gewicht eines solchen Vorwitzigen gewiss nicht lange ertragen können und ihn mit göttlicher Macht zu seiner Schande zurückstoßen.“

[7] Buch 4,26: „Ich verlange nichts von dir“, antwortete der Herr, „außer, dass du ganz leer (evacuata) und empfangsbereit zu mir kommst, denn alles, was mit an dir gefällt, hast du von mir als reines Geschenk empfangen.“

[8] In der deutschen Ausgabe von Herder 2001, die leider nicht vollständig ist und deshalb in manchen Büchern ein Kapitel weniger hat als die kritische lateinische Ausgabe, ist es Kapitel 6. Außerdem ist die deutsche Übersetzung in dieser Ausgabe sehr mangelhaft. Die derzeit beste deutsche Übersetzung ist die von Johanna Lanczkowski, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1989. Auf sie bezieht sich in Zukunft die Kapitelangabe bei den Zitaten. Aber auch sie ist leicht gekürzt und nicht fehlerfrei.