Wenn man den Prolog des Gesandten der göttlichen Liebe liest, erkennt man zur Genüge, wie wichtig es ist, welchen Titel
ein Werk trägt und wie es zu diesem Titel kam. Tatsächlich hat der Herr selbst
dem Werk seinen Titel gegeben, wie ein Kind seinen Namen von seinen Eltern
empfängt. Im Original lautet er so: Legatus memorialis abundantiae divinae
pietatis, d.h. Gesandter der göttlichen Liebe. Dabei hat jedes Wort seine Bedeutung, aber der Begriff, auf den
sich ganz besondere Aufmerksamkeit richtet, ist ohne Zweifel Pietas[1]. Dieses Wort ist der lateinischen
Sprache und der christlichen Tradition teuer, aber es ist schwierig, es in
einer Übersetzung einzufangen. Wer erfahren will, was pietas im Gesandten der
Göttlichen Liebe bedeutet, muss
sich mit ihm beschäftigen. Die Arbeit ist vielleicht etwas trocken, aber sie
ist der Mühe wert.
Der Gesandte
verwendet das Wort pietas 242mal. Der
Gebrauch teilt sich so auf die einzelnen Bücher auf:
Prolog: 8
mal auf 5 Seiten (Ausgabe der
Sources Chrétiennes)
Buch 1: 20
mal auf 52 Seiten
Buch 2: 44
mal auf 63 Seiten
Buch 3: 62
mal auf 167 Seiten
Buch 4: 50
mal auf 235 Seiten
Buch 6: 57
mal auf 130 Seiten
Missa: 1
mal auf 12 Seiten
Diese Zahlen zeigen deutlich, dass sich die
größte Dichte der Verwendung des Wortes pietas
im Bezug auf die Seitenzahl im 2. Buch findet. Wir wissen aber auch, dass das
zweite Buch das einzige ist, das ganz aus der Hand Gertruds stammt. Auch der
Prolog lenkt mit 8maliger Verwendung auf 5 Seiten die Aufmerksamkeit des Lesers
auf dieses allgegenwärtige Manna, das „ihn ein wenig im Voraus verkosten lässt,
was die übergroße Liebe Gottes schenken wird“.
Nach einer solchen Feststellung scheint es nicht möglich zu sein, die
Bedeutung von pietas zu ergründen,
ohne sich die Zeit zu nehmen, das sprachliche Umfeld der 242 Stellen, die wir
genannt haben, zu untersuchen. Was ist das Resultat einer solchen Untersuchung?
Wie die Zwischenüberschrift angibt, richtet
sich unsere Aufmerksamkeit nicht auf das weitere Umfeld von pietas, sondern auf das unmittelbare
Umfeld. Das heißt: Unsere Untersuchung lässt eine ganze Reihe von Hauptwörtern
beiseite (wie amor, caritas, bonitas,
suavitas, sapientia, misericordia, miseratio, compassio, dignatio, delectatio,
deliciae usw.) die doch alle einen Bezug zu pietas haben und im Gesandten
häufig vorkommen, die aber meiner Meinung nach weniger Gewicht haben als
eine andere Zusammenstellung, die nur aus einem einzigen Hauptwort, 8
Eigenschaftswörtern und 2 Zeitwörtern besteht:
1.
Abundantia ist
dieses Hauptwort, das eine bevorzugte Stellung einnimmt. Es ist praktisch das
einzige Hauptwort, das unmittelbar in der Umgebung von pietas steht. Man muss sich erinnern, dass es ein wesentlicher Teil
der Überschrift des Gesandten ist: Legatus memorialis abundantiae divinae
pietatis. Deshalb weiß man gleich
von Anfang an: die pietas hat als
Kennzeichen den Überfluss. Den Überfluss, der an mehreren Stellen sogar zum
Über-Überfluss (superabundantia)
wird. Wir sind hier in der Ordnung der Maße und Mengen. Unter diesem
Gesichtspunkt gibt es bei der pietas keinen
Mangel.
2.
Bei
den acht Eigenschaftswörtern, die die pietas
kennzeichnen, liegt unbestreitbar das Wort divina
mit 55 Stellen an der Spitze, gefolgt von gratuita
(26 Stellen), incontinens (14 Stellen), supereffluens (13 Stellen), benigna (12 Stellen), liberalis (10 Stellen), dulcis (10
Stellen) und largiflua[2] (8 Stellen). Wenn man diese
grundlegende Wortreihe mit einer anderen Reihe von Eigenschaftswörtern
verbindet, die auch in unmittelbarem Zusammenhang mit pietas stehen, aber etwas
zurücktreten, z.B. inaestimabilis,
ineffabilis, immensa, ingenita, indeficiens, naturalis, mellea, dann sieht man, wie sich rund um die göttliche Liebe (divina pietas) ein Hof
bildet, der aus reiner Gnade besteht (gratuita,
liberalis). Dieser Hof ist so groß und weit, dass er sich nicht abmessen
und einfangen lässt (immensa, largiflua,
inaestimabilis, ineffabilis, indeficiens, supereffluens). Es liegt in der Natur Gottes selbst, dass
man ihn nicht eingrenzen kann. Und man erkennt, dass dieser reiche Gnadensegen
die Eigenschaften der Güte (benigna)
und Liebenswürdigkeit (dulcis, mellea[3]) hat, die
sich uns in Jesus Christus geoffenbart haben.
3.
Zwei
Zeitwörter: cogere und confidere stehen ebenfalls ganz nahe bei
der pietas. Das erste bezieht sich
auf das Wirken der pietas in Gott
selber, das zweite auf die Bedingungen, die beim Menschen erforderlich sind,
damit er die göttliche Liebe (divina
pietas) annehmen und von ihr beschenkt werden kann. Wir werden dem einen
und dem anderen bei den weiteren Nachforschungen wieder begegnen.
Der Gesandte
feiert die pietas als Attribut Gottes sehr intensiv. Auch hier
weist der Titel schon von Anfang an den Leser darauf hin, dass er nicht
erwarten darf, im Gesandten eine
gleichmäßige Verwendung des Wortes pietas
anzutreffen, das sich das eine Mal auf Gott, das andere Mal auf den Menschen
bezieht. Die ganz seltenen Ausnahmen, bei denen das Wort vom Menschen ausgesagt
wird, sind im Gegenteil ein offenkundiger Beweis dafür, dass das ganze Gewicht
der pietas auf Gott ruht, genauer
noch auf Jesus Christus[4]. Die göttliche Liebe (divina pietas), die sich in Jesus
Christus offenbart, ist das ureigenste
Göttliche am Göttlichen. Die Zahlen selbst können uns davon überzeugen: Von den
242 Stellen, die wir gefunden haben, beziehen sich bloß 24 nicht direkt auf
Gott. Sie verteilen sich in folgender Weise: 12 beziehen sich auf die Jungfrau
Maria, 6 auf Gertrud selbst, 2 betreffen die Äbtissin Gertrud von Hackeborn, 1
eine verstorbene Ordensschwester, 1 die Töchter der Äbtissin Gertrud von Hackeborn,
die nach ihrem Tod mit kindlicher Liebe um sie trauern, 1 betrifft die „Übungen
der pietas“, und die letzte Stelle
meint emotionelle Regungen (pietas),
vor denen sich der Mensch in Acht nehmen muss.
Diese 24 Stellen, in denen sich pietas auf jemanden anderen als Gott bezieht, fordern zu einigen
Bemerkungen heraus:
Aus diesen Bemerkungen ergibt sich noch
überzeugender, dass der Gesandte eine
große Darstellung der göttlichen Liebe (divina
pietas) ist, die sich uns als die kennzeichnendste
Eigenschaft der Liebe Gottes darstellt. Man könnte fast sagen, pietas sei hier eine Art Eigenname für
Gott, was der Liebe die Möglichkeit gibt, ihre Identität mit einer
überraschenden und unvergleichlichen Virtuosität zu variieren.
Vierzehnmal wird die göttliche Liebe (divina pietas) im Gesandten als incontinens
bezeichnet, davon sechsmal im Superlativ: incontinentissima
. Das ist wenig, könnte man sagen, und das wäre richtig, wenn wir nicht
bereits im unmittelbaren sprachlichen Umfeld von pietas die Aussage vom Überfluss und sogar vom Über-Überfluss
gefunden hätten. Incontinens und abundantia, incontinentissima und superabundantia nähern sich so einem „Zu-viel“, dem Gott keinen
Widerstand entgegensetzt. Zu groß ist die pietas
Gottes, als dass er sie zurückhalten könnte! Sie strömt über, so als ob er sie
nicht beherrschen könnte. Wir stehen hier vor einer Wahrheit, die in der
christlichen Tradition nicht neu ist, die aber die hl. Gertrud und ihre
Vertrauten meisterhaft zur Darstellung bringen: Die Ohnmacht des Allmächtigen,
die nur die Liebe zum Ausdruck bringen kann.
Das Zeitwort cogere, das auch im unmittelbaren sprachlichen Umfeld von pietas steht und das sich mit zwei
anderen Zeitwörtern: compellere und devincere verbindet, bestätigt und
bekräftigt, dass es in dieser Wahrheit Irrationales und Unvernünftiges gibt.
Nicht nur, dass Gott seiner pietas
keinen Widerstand entgegensetzt, sondern sie ist in ihm selbst sogar
gewissermaßen Gegenstand eines Ringens, aus dem er zugleich als Besiegter (devictus) und Sieger hervorgeht. Das ist das unerhörte Paradox, das der
Gesandte der göttlichen Liebe darstellen möchte, damit der Leser sich ihm
ausliefern kann, ohne ihm auch seinerseits irgendeinen Widerstand entgegenzusetzen.
Ein Überfluss, der sich nicht zurückhalten
lässt, führt unausweichlich zu einem Überströmen. Das lässt das Eigenschaftswort supereffluens anklingen, das im
Gesandten 13mal verwendet wird. Bisweilen als Eigenschaftswort (effluens), bisweilen im Superlativ (supereffluentissima), bisweilen auch als
Hauptwort (supereffluentia) verwendet,
gehört es ohne jeden Zweifel in das unmittelbare sprachliche Umfeld der
göttlichen Liebe (divina pietas) und
führt durch die eine Silbe „flu“[5] ein Bild ein , das ganz grundlegend
für das richtige Verständnis von pietas
in der ganzen Botschaft Gertruds ist: das Bild des Strömens. Der Gesandte will nichts anderes, als seine
Leser in die Ströme der göttliche Liebe (divina
pietas) hineinstellen, die am
häufigsten mit dem Kennzeichen der Unendlichkeit versehen sind. Sie sind der
unerschöpfliche Abgrund (abyssus) der Zärtlichkeit Gottes, der Strom (torrens) der verheißenen Wonnen, der
Ozean (pelagus), in dem man zu
schwimmen lernen muss, die Überschwemmung (inundatio)
des göttlichen Erbarmens. Gertrud findet nicht genügend Worte, um das Wirken
dieser Wasser zu feiern, in die sie eintauchen und in denen sie untergehen
möchte, ganz verschlungen in einen Tod aus Liebe, nach dem sie unablässig
verlangt. Man kann es sich bewusst machen anhand des Gebetes in der 4.
geistlichen Übung, in der sich in lyrischer Sprache, die voll von heftigem
Liebesverlangen ist, sehr ausdrucksstarke Bilder des Strömens finden:
„Wer
bin ich, Gott, du Liebe meines Herzens? Weh mir, das ich dir so unähnlich bin!
Ich bin nur wie ein winziges
Tröpfchen deiner Güte, und du bist ein Meer, ganz erfüllt von
Liebenswürdigkeit. O Liebe, Liebe, öffne über mir kleinem Geschöpf den Schoß
deiner Güte (pietas)! Lass den ganzen
Wasserfall deiner väterlichen Güte über mich kommen! Brich alle Quellen deines
großen, unendlichen Abgrunds über mir auf!
Versenke mich in die Tiefen deiner Liebe. Ich möchte im Abgrund deiner unendlich barmherzigen Güte (pietas) untergehen. Ich möchte in der
Flutwelle deiner lebendigen Liebesglut aufgehen, wie ein Meerestropfen in
dessen voller Tiefe. Ich möchte
sterben, sterben im Strom deines unermesslichen Erbarmens wie ein Feuerfunke in
einem Sturzbach erlischt. Das Träufeln deiner Liebe möge mich einhüllen. Der
Kelch deiner Liebe möge mir das Leben rauben. Er führe den geheimen Ratschluss
deiner weisen Liebe aus und verhelfe mir dazu, glorreich in deine lebendige
Liebe hineinzusterben. Dort, ja dort will ich mein Leben in dich hinein
verlieren, wo du ewig lebst, du meiner Liebe, du Gott meines Lebens. Amen.“ (Ex
4)
Nicht nur wegen der beeindruckenden Menge von
Bildern über das Fließen hat dieses Gebet unsere Aufmerksamkeit auf sich
gezogen, sondern auch, weil es beide Partner in dasselbe Umfeld von Symbolen
stellt, die einander entsprechen. Gerade das Element des Wassers und des
Fließens macht die Begegnung des Beters mit dem, zu dem er betet, möglich. Mit
Hilfe der Bilder führt sie beide zur Vereinigung. Es ist auffallend, dass sich die Beterin als „winziges Tröpfchen deiner Güte“
betrachtet dem gegenüber , den sie als „Meer, ganz erfüllt von
Liebenswürdigkeit“ anruft. Die Symbole
sind also bei jedem der beiden Partner die selben. Der Unterscheid kommt nur
aufgrund der Größe zustande: auf der einen Seite steht das Winzige, auf der
anderen das Unermessliche. Sowohl in den geistlichen
Übungen wie auch im Gesandten
findet man dieses Spiel der einander entsprechenden Symbole an mehreren
Stellen. Das geht bis zu den letzten
Seiten des 5. Buches, wo sich Gertrud in einer Vision, die sich auf ihren nahen
Tod bezieht, als ganz kleiner Tautropfen betrachtet (Buch 5,32), während das ganze Werk seinen Abschluss
findet und den Leser ein letztes Mal zu den „Strömen der Güte Gottes“ führt
(Buch 5,36).
An diesem Punkt wäre es verfrüht, wollten wir
beim Thema des Fließens noch weiter gehen. Wir werden am Ende noch einmal
darauf zu sprechen kommen, wenn wir von den Wirkungen der eucharistischen
Kommunion sprechen. Dann werden wir besser in der Lage sein, die Verzweigungen und Vorteile dessen zu
sehen, was wir hier nur als Prämissen stehen lassen.
Wenn uns der Gesandte einen Gott zeigt, der seine pietas nicht zurückhalten kann, hat er dann auch etwas darüber zu sagen,
was Gott vom Menschen erwartet, damit dieser schon hier einen Vorgeschmack der göttliche Liebe (divina pietas) bekommen
kann? Wir nehmen eine dreifache
Unterscheidung vor:
1.
Der
Prolog zeigt uns sehr schnell, was nötig ist,
damit die Lesung des Gesandten
für uns fruchtbar sein kann: „Wenn jemand in der Absicht, im geistlichen Leben
voranzuschreiten, mit Hingabe in diesem Buch lesen möchte...“ (Prolog 2,9-10)
Das wird ohne jede Verzerrung gesagt. Wir verstehen, dass die „rechte Absicht“
erforderlich ist.[6]
Man darf die Nuance nicht vernachlässigen, die der Begriff „devota“ als Beifügung zu „confidentia“ mit sich bringt, aber man
muss dabei vorsichtig sein, denn man kann im 3. Buch 3,18 lesen, dass zwar die devotio einem Menschen fehlen kann, dass Gott in seiner pietas ihm aber deswegen nicht schon seine Aufmerksamkeit und
Hochachtung entzieht:
„Ich wünsche sehr, dass meine
Heiligen mich nicht für grausam halten, sondern glauben, dass ich es für gut,
ja vollkommen ansehe, wenn sie mir irgendeinen
Dienst erweisen, der sie etwas kostet. Zum Beispiel dient derjenige Gott auf seine Kosten, der
kein Gefühl der Hingabe empfindet, mir aber trotzdem in Gebet, Kniebeugen und
ähnlichen Übungen dient und darüber hinaus auf die Güte Gottes (benigna pietas) vertraut, dass er das
trotzdem mit Wohlgefallen annimmt.“
(Buch 3,18)
2. Die göttliche Liebe (divina pietas), die Gott, wie wir gesehen haben, nicht
zurückhalten kann, braucht auf unserer Seite ein zugleich leeres und
aufnahmefähiges Gefäß[7] für dieses maßlose Überströmen.
Paradoxerweise kann sich die pietas um so besser dem Menschen offenbaren, je
mehr sie ihn aufnahmebereit antrifft,
fähig, sie aufzunehmen und festzuhalten. Darunter muss man anscheinend die continentia (d.h. die Beherrschung der
Sinne) verstehen, die vom Menschen verlangt wird. So wenig Gott sich
zurückhalten kann, um so größer muss die Fähigkeit des Menschen sein, die pietas festzuhalten. Als Beweis dafür kann man zwei Stellen des Gesandten ansehen, die sehr eindrücklich
sind:
· Die erste gehört zum Charakterbild
Gertruds: Vor dem Himmel, in dem Gott wohnt, steht die mira continentia Gertruds wie der Mond. (Buch 1,9)
· Die zweite beschreibt eine Eingebung
Gottes, die sie hatte: sie suchte eines Tages zu ergründen, warum die einen
beim Officium überfließende geistliche Nahrung empfangen, während die anderen
in der Trockenheit bleiben. Hier ist die Antwort des Herrn, die eine Vertraute
Gertruds aufzeichnete:
„Das Menschenherz ist von Gott
geschaffen , um die Freude festzuhalten, wie ein Gefäß das Wasser festhält (continens aquam). Wenn aber winzige Löcher in diesem Gefäß das in
ihm enthaltene Wasser ( continens) ausfließen lassen, kann es sein, dass das Gefäß schließlich
ganz leer und trocken ist. So ergeht es auch dem Menschenherz beim Festhalten
der Freude: Wenn es diese durch die körperlichen Sinne ausströmen lässt, beim
Sehen oder Hören oder auch die anderen Sinne, wenn es tut, was diesen beliebt,
kann es auch in diesem Maß die Freude verlieren und ganz ohne die Freude an
Gott zurückbleiben. Das kann ein jeder bei sich selbst erfahren. Wenn er etwas
sehen oder hören möchte, das nur wenig oder gar keinen Fortschritt bringt, und
gleich nachgibt, dann schätzt er die geistliche Freude gering, denn sie strömt
wie Wasser aus. Wenn er sich aber müht, sich aus Liebe zu Gott zu beherrschen,
dann wächst sie im Herzen, so sehr, dass er sie kaum ertragen kann. Wenn der
Mensch bei solchen Gelegenheiten gelernt hat, sich zu besiegen, dann wird ihm die Freude an Gott vertraut.
Und je größer die Mühe war, die er dabei auf sich nahm, desto fruchtbarer wird
seine Freude an Gott sein.“ (Buch 3, 30)
Das Wort continere kommt in diesem Absatz fünfmal vor, der offensichtlich
von derselben Begeisterung getragen ist wie der vorherige. Vielleicht stammt er
auch von der selben Hand. In beiden Fällen handelt es sich um ein „Beherrschen“
(continere, continentia) der
körperlichen Sinne, um die Freude in Gott zu bewahren. Aber wenn diese continentia fehlen sollte, führt das
dann auch zu einem Fehlen der pietas?
Der ganze Gesandte antwortet: nein,
denn die göttliche Liebe (divina pietas)
ist von der continentia des Menschen
nicht mehr abhängig als von seiner devotio
(Hingabe). Zweifelsohne tragen
die continentia und devotio sehr dazu bei, dass man Gottes
Liebe erfahren kann, doch ist die pietas in dem Maß, als sie divina ist, auch gratuita (26 Stellen). Sie ist absolut frei, die Überfülle ihrer
Fluten zu ergießen, wo sie will und wann sie will.
2.
Das
unmittelbare sprachliche Umfeld der göttliche Liebe (divina pietas) bestätigt, dass es die confidentia (das Vertrauen) ist, was ihr Wirken am meisten
begünstigt, oder umgekehrt: Ein Mangel an confidentia
ist für sie das größte Hindernis. Ein Mangel an devotio (Hingabe) oder ein Mangel an continentia (Beherrschung der Sinne) berauben den Menschen zwar,
wie wir gesehen haben, der Freude an Gott, aber sie hindern Gott nicht, das
Werk seiner pietas am Menschen zu
vollbringen. Dagegen kann ein Mangel an confidentia
(Vertrauen) Gott zwar nicht hindern, das Spiel seiner pietas am Menschen zu wirken,, aber es verzögert zumindest die
volle Entfaltung dieses Spiels. Man sieht das deutlich an einem Vergleich, den
der Herr selbst zwischen der confidentia
seiner geliebten Gertrud und dem Mangel an confidentia
bei einem anderen Menschen zieht:
„Wenn ich lange gezögert habe, dir
die Gaben zu schenken, nach denen du verlangst, so geschah das deshalb, weil du
wenig Vertrauen darauf hast, was meine ungeschuldete pietas in dir wirken kann. Im Gegensatz dazu ist meine Geliebte so tief
im Vertrauen verwurzelt und stützt sich in allen Dingen allein auf meine Liebe
(pietas), dass ich keine ihrer Bitten
jemals enttäusche.“ (Buch 1,10)
Diese Stelle steht als Finale eines Kapitels,
wo die confidentia der hl. Gertrud
als erster Stern leuchtet. Er strahlt so hell, dass ihn die Redaktorin des
ersten Buch mehr als eine „Gabe“ als eine „Tugend“ ansieht: „In welchem
wunderbaren Grad sie diese – sagen wir
nicht Tugend, sondern eher - Gabe des Vertrauens besaß....“ (Buch 1,10)
Wir dürfen also nicht mehr daran zweifeln, dass
das Vorhandensein oder Mangeln der confidentia
(des Vertrauens) im Menschen anscheinend mehr als alles andere – vor allem mehr als die devotio (die Hingabe) und die continentia (die Beherrschung der Sinne) – die pietas divina beeinflusst. Ich möchte es noch an einem Beispiel
zeigen, wo dieses Mal nicht der Mangel der confidentia
die pietas Dei lähmt, sondern die
unerschütterliche confidentia des Menschen so viel Macht hat, dass das Herz
Christi davon richtig durchbohrt wird:
„Am Tag der heiligen unschuldigen
Kinder wurde sie bei der Vorbereitung auf die Kommunion durch ungestüme
Gedanken behindert und rief deshalb zu Gott um Hilfe. Da empfing sie vom
liebevollen Erbarmen Gottes folgende Antwort: ‚Wenn jemand, von menschlicher
Versuchung angefochten, in festem Vertrauen unter meinen Schutz flieht, so
gehört er zu jenen, von denen ich sagen kann: Einzig ist meine Taube,
auserwählt unter den Tausenden, die mit einem einzigen Blick ihrer Augen mein
göttliches Herz verwundet. Das trifft mich so stark, dass ich, falls ich ihr
nicht helfen könnte, in meinem Herzen so traurig wäre, dass alle Freuden des
Himmels mich nicht trösten könnten. Denn in meinem Leib, der mit der Gottheit
vereinigt ist, haben die Auserwählten allezeit einen Fürsprecher, der mich
zwingt, mit ihnen in ihren Bedürfnissen Mitleid zu haben.’ Darauf sagte sie:
‚Auf welche Weise, mein Herr, kann dein unbefleckter Leib, in dem du nie einen
Widerspruch empfandest, dich zum Mitleid in unseren mannigfachen Bedrängnissen
zwingen?’ Der Herr antwortete: ‚Wenn jemand darüber nachdenkt, wird er es
leicht verstehen. Denn der Apostel sagt von mir: Er musste in allem den Brüdern
gleich werden, um barmherzig zu werden’ Und der Herr fügte noch hinzu: ‚Der
eine Blick meiner Auserwählten, mit dem sie mein Herz verwunden, ist das zuversichtliche Vertrauen. Sie muss
glauben, dass ich wahrhaft die Macht, die Weisheit und den Willen habe, ihr in
allem treu zur Seite zu stehen. Dieses Vertrauen tut meiner Liebe eine solche
Gewalt an, dass ich mich ihm niemals entziehen kann.’ Hierauf sagte Gertrud:
‚Mein Herr, wenn das Vertrauen ein so sicheres Gut ist, dass niemand es
besitzen kann, wenn du es ihm nicht schenkst, worin besteht dann der Fehler
jener, die es nicht haben?’ Darauf
entgegnete der Herr: ‚Jeder kann seinen Kleinmut bloß aufgrund des Zeugnisses
der Heiligen Schrift schon einigermaßen besiegen. Und wenn auch nicht aus ganzem Herzen, so kann er doch wenigstens
mit dem Mund zu mir sprechen wie Ijob: Selbst wenn ich in den Tiefen der Hölle
versunken wäre, würdest du mich von dort befreien, und: Selbst wenn du mich
tötest, werde ich dennoch auf dich hoffen – und Ähnliches:“ (Buch 3,7)[8]
Was dieser Seite ihren besonders ergreifenden
Charakter gibt, ist, dass sich die Liebe Gottes (pietas Dei ) selbst durch die confidentia
geschlagen gibt. Während wir gesehen haben, dass diese pietas in Gott selbst zu einem Kampf führt, aus dem er geschlagen
hervorgeht, so wird sie hier sogar durch die confidentia eines Menschen besiegt. – und zwar so sehr besiegt,
dass das göttliche Herz Jesu Christi davon durchbohrt wird. Heißt das
endgültig, dass der Mensch über Gott triumphiert? Ja, sagt das „auserwählte
Kind“ (prolis electa), das wir gehört
haben. Es ist die Kraft der Liebe, die sich durch das Vertrauen des Geliebten
geschlagen geben möchte. Gott setzt ihr
keinen Widerstand entgegen. Er lässt sein Herz davon durchdringen, er verströmt
sich, und Fluten seiner pietas
ergießen sich in das Tal der Menschheit, wie groß auch ihr Elend sein mag.
(Buch 2,11)
Das sind die auffallendsten Züge der pietas, die uns der Gesandte kündet. Um ihre originellen Züge
noch mehr herauszustellen, müsste man die kulturelle, patristische und
liturgische Tradition untersuchen, in der die heilige Gertrud und die
Schwestern von Helfta lebten. Man würde dann erkennen, dass ihre Art und Weise,
von der pietas als der Liebe Gottes
zu sprechen, ganz sicher zu den typischsten Zügen ihrer Botschaft gehört.
[1] Das lateinische Wort „pietas“ lässt sich im Deutschen nur schwer durch ein Wort übersetzen. Es bedeutet „Liebe“, wobei die Nuancen von Güte, Zärtlichkeit, Treue usw. mitschwingen.
[2] Manchmal nehmen diese Adjektive auch die Form eines Substantivs an: supereffluentia, liberalitas, dulcedo. Bisweilen begegnet man ihnen auch im Superlativ: incontinentissima, supereffluentissima, liberalissima, benognissima,, dulcissima, Das ist für den Stil von Helfta typisch. Vgl. P. DOYERE, Einleitung zum Gesandten in SC 139,25f.
[3] Das Wort dulcis bezieht sich auf die Berührung und das Verkosten. Es bildet das Umfeld, das im Gesadnten im Gefolge des hl. Bernhard die Bilder vom fließenden Honig (mellea, melliflua) aufsteigen lässt. Vgl. die Einführung in den Gesandten in SC 139, 27.
[4] Wenn der Wort pietas nicht durch divina gekennzeichnet ist, dann steht es sehr oft zusammen mit einem Possessivpronomen (mea, sua) Im Gesandten zählt man 111 Stellen, wo pietas mit einem Possessivpronomen steht, davon kommt im 2. Buch die Wendung pietas tua 29mal vor. Ob nur die pietas durch divina oder ein Possessivpronomen gekennzeichnet ist, fast immer handelt es sich um die pietas des Herrn Jesus Christus.
[5] Von „fluo, fluere - fließen, sich ergießen“ leiten Gertrud und die Schwestern von Heflta das Vokabular des Strömens ab. Oft steigern sie die einfachen Adjektive noch, so dass die pietas dann nicht nur supereffluentissima, (wörtlich: am über-überströmendsten), sondern dazu noch largiflua (wörtlich: weit auseinanderfließend) (8 Stellen), oder melliflua, (wörtlich: fließend wie süßer Honig) suaviflua usw. wird.
[6] Die rechte Absicht ist das Gegenteil von „nutzloser Neugier“, die der Herr im 5. Buch 34 aburteilt: „Wer von nutzloser Neugier getrieben ist, geht rückwärts und beugt sich über meine Schulter, um den Text meines Buches verkehrt zu sehen und zu lesen. Ich werde das Gewicht eines solchen Vorwitzigen gewiss nicht lange ertragen können und ihn mit göttlicher Macht zu seiner Schande zurückstoßen.“
[7] Buch 4,26: „Ich verlange nichts von dir“, antwortete der Herr, „außer, dass du ganz leer (evacuata) und empfangsbereit zu mir kommst, denn alles, was mit an dir gefällt, hast du von mir als reines Geschenk empfangen.“
[8] In der deutschen Ausgabe von Herder 2001, die leider nicht vollständig ist und deshalb in manchen Büchern ein Kapitel weniger hat als die kritische lateinische Ausgabe, ist es Kapitel 6. Außerdem ist die deutsche Übersetzung in dieser Ausgabe sehr mangelhaft. Die derzeit beste deutsche Übersetzung ist die von Johanna Lanczkowski, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1989. Auf sie bezieht sich in Zukunft die Kapitelangabe bei den Zitaten. Aber auch sie ist leicht gekürzt und nicht fehlerfrei.