Teil III

Das abendländische Mönchtum vor Cîteaux

            Der erste Teil dieser Reihe fragte grundsätzlich nach den Beziehungen zwischen dem Mönchtum und der Kultur, in der es gelebt wird; der zweite Teil behandelte die Anfänge des Mönchtums im Orient und seine „kulturstiftenden“ Lebensformen. In diesem dritten Beitrag wird ein Gang durch die Geschichte des abendländischen Mönchtums vor Cîteaux die vielfachen Beziehungen zur kulturellen Entwicklung Europas aufzeigen. Dieses Thema ist von besonderer Bedeutung in einer Zeit, da ernsthaft nach den geistigen und kulturellen Fundamenten der Europäischen Union gefragt wird.

            Die Anfänge des abendländischen Mönchtums liegen bis heute ziemlich im Dunkel. Lange hat man gemeint, daß es seinen Ursprung dem Einfluß des orientalischen Mönchtums verdanke. Momentan neigt die Forschung eher zu der Annahme, daß das Mönchsleben an den verschiedensten Orten ungefähr gleichzeitig aus der lebendigen Glaubenspraxis Vitalität der jeweiligen Ortskirche entsprungen ist.

       Die kulturelle Situation ist jedoch im Westen ganz anders als der im Osten. Zunächst hatten viele urkirchliche Gemeinden des Orients als Hintergrund die religiöse Überlieferung des Judentums und andere geistliche Strömungen der Antike. Im Abendland dagegen bot die öffentliche Religion des Römischen Reiches nichts Vergleichbares an: sie war eine Staatsreligion geworden, in der es tatsächlich nur sehr wenige Gläubige gab. Und man muß hinzufügen, daß das lateinische Mönchtum sich gerade während der Zeit der Völkerwanderung durch die gesamte damals bekannte Welt ausbreitete, also in dem geschichtlichen Augenblick, als das Römische Reich sich auflöste.

            Einige bezeichnende Eigenarten aus den Anfängen des abendländischen Mönchtums seien hier kurz genannt: Es war eher eine Angelegenheit von Einzelpersonen (wenn sie auch oft sehr zahlreich waren) als die Sache der universalen Kirche oder selbst einer ganzen Ortskirche. Es war von Anfang an Sache einer Elite, die als solche anerkannt war. Und man betrachtete das Mönchtum als eine Ehre für die Ortskirche zu einer Zeit, da sich das Römische Reich in vollem moralischem Niedergang befand. Zwei weitere wichtige Aspekte können nur angedeutet werden: Die Rolle der Frauen, Jungfrauen und Witwen, vor allem in Afrika zu den Zeiten Tertullians und des heiligen Cyprian, sowie die „kultivierte“ Eigenart bestimmter klösterlicher Milieus, vor allem um Rufinus, Paulinus von Nola, Sulpicius Severus, Augustinus und Hieronymus.

Mönchtum in Rom zur Zeit des heiligen Hieronymus

            Greifen wir hier nur den interessanten Fall des stadtrömischen Mönchtums heraus. [1] Einige Jahrzehnte nach dem Edikt von Mailand war Italien noch wenig christianisiert. In der sehr konservativen Bevölkerung war der heidnische Kult noch ein Teil des öffentlichen Lebens geblieben. Die Männer beobachteten in der Öffentlichkeit weiterhin die Religion ihrer Väter, auch lange noch, nachdem ihre Mütter, Schwestern und Ehefrauen sich zum Christentum bekehrt hatten. Wenn sie ihren Einfluß in der Gesellschaft behalten und ihr öffentliches Leben weiterführen wollten, mußten sie ihren Beitritt zur Kirche hinauszögern. Sie wurden höchstens Katechumenen und gingen nur selten zur Kirche; manchmal warteten sie mit der Taufe, bis sie auf dem Sterbebett lagen.

            Evangelisierung geschah an erster Stelle in den Städten; der Begriff paganus, Heide, ist gleichbedeutend mit „Bauer“. Dies erklärt, warum viele der zuerst bekehrten Bürger den Familien der höchsten gesellschaftlichen Stände angehörten. Außerdem gab es in Italien keine Wüste, in die man sich hätte flüchten können wie in Ägypten. Deswegen war die „Wüste“ der großen römischen Asketen ihr eigenes Haus. Hier lebten sie im Gebet, hier empfingen sie den römischen Klerus und hielten Vorträge über Theologie und Spiritualität. Die großen Frauen unter ihnen übten einen großen Einfluß auf die Gesellschaft aus. Er rührte sowohl von ihrer Heiligkeit als auch von ihrem großen Reichtum her, mit dem sie der Kirche und vielen Klöstern halfen. Daneben spielten mehrere eine wichtige Rolle als geistliche Ratgeberinnen und Begleiterinnen; man denke besonders an die beiden Melanien und Paula.

            Wie das Jahr 383, als Evagrius in die Wüste ging, für den christlichen Osten von Bedeutung werden sollte, so das Jahr 382 für den Westen. Damals kam ein großes Genie nach Rom: Hieronymus. Er war, genau wie Evagrius, ungefähr 40 Jahre alt, ein Mann von großer Erfahrung und außergewöhnlicher Gelehrsamkeit. Er stammte von der äußersten Grenze der lateinischen Welt, Pannonien. Nachdem er in Rom ausgezeichneten Unterricht in Grammatik und Rhetorik erhalten hatte, studierte er Griechisch in Antiochien. Dann verbrachte er zwei Jahre als Einsiedler in der Wüste von Chalkis und ging darauf nach Konstantinopel, wo er zu Füßen Gregors von Nazianz studierte. Er vertiefte sich auch in Origenes, den er immer als einen der größten christlichen Lehrer betrachtete. Nachdem er im Jahre 382 als Schützling des Papstes Damasus in Rom angekommen war, wurde er der geistliche Führer aller berühmten asketischen Damen vom Aventin, besonders aber der betagten Witwe Marcella und der jungen Witwe Paula, die noch keine 30 Jahre alt und vom frühen Tod ihres Gatten ganz niedergeschmettert war. Hieronymus wird sie zeitlebens wie eine Tochter zärtlich lieben. Er besaß große Qualitäten, aber Diplomatie war nicht gerade seine starke Seite. Wahrscheinlich war ihm auch echte Demut zu eigen, aber begleitet von einer Haltung, die leicht arrogant wirkte... Seine Verachtung für den römischen Klerus konnte er nur schwer verhehlen, und damit hat er diesen innerhalb weniger Jahre ganz gegen sich aufgebracht. Nach dem Tod des Papstes Damasus, der seine Hand über ihn gehalten hatte, mußte er Rom verlassen und siedelte nach Palästina über, wo er weiterhin Tutor der großen römischen Nonnen blieb.

Der Untergang des Römischen Reiches

            Im Jahre 395 teilte Theodosius das Römische Reich unter seine Söhne auf: Arcadius bekam das Morgen- und Honorius das Abendland. Nur wenig später, zwischen 405 und 419, beginnen die Einfälle der Barbarenvölker geographische und soziologische Umbrüche im römischen Abendland zu verursachen. Die Römer verlassen sofort Britannien; die Barbaren überschreiten den Rhein. Im Jahre 429 nehmen die Langobarden Rom ein. Kurz vor seinem Tod sieht Augustinus die Vandalen vor den Mauern seiner Bischofsstadt Hippo. Schließlich übergibt Kaiser Valentinian III (425-455) das Abendland den Barbaren. Im Jahre 476 endet die Reihe der römischen Herrscher im Abendland. Die wiederholten Invasionen der Barbarenvölker beeinflussen das kirchliche Leben tief und lassen auch das monastische Leben nicht unberührt, das im Westen wie im Osten seit den ersten christlichen Generationen bestanden hatte.

            Zwanzig Jahre später empfing Chlodwig die Taufe, und als er im Jahre 511 starb, wurde er in einem Nachruf als Gründer mehrerer Klöster gefeiert. Das Mönchtum hatte also überlebt; allerdings gab es eine große Veränderung: Am Ende des 4. und zu Anfang des 5. Jahrhunderts hatten in den abendländischen Klöstern Männer gelebt, die nach der alten römischen Kultur geformt gewesen waren. Nach und nach wurden diese Abteien nun von Mitgliedern der neuen Völkerstämmen besetzt. Das waren raue Leute mit wenig Zivilisation und menschlicher Kultur, mit nur geringer oder völlig fehlender Bildung. Oft besaßen sie auch nur einen dünnen Firnis von Christentum, denn mit der Taufe Chlodwigs war eine ganz neue Form der Evangelisierung eingeführt worden: die Massentaufe.

            Wie einst Kaiser Diokletian in Ägypten, so wird nun ein ostgotischer König, ohne es zu wissen und zu wollen, unmittelbaren Einfluß nehmen auf das ganze spätere Mönchtum im Abendland. Wie das?

            Im Jahre 493 übernimmt Theoderich, der König der Ostgoten, die Macht in Rom. Während seiner Jugend hatte er 10 Jahre als politische Geisel in Konstantinopel zugebracht. Ehrgeizig und intelligent, gründete er sein Reich auf eine Integration barbarischer und römischer Elemente. Dem gotischen Element vertraute er die Verteidigung des Landes an, dem römischen die Verwaltung. Er umgab sich mit gelehrten und begabten Mitarbeitern, wie Boëtius und Cassiodor. Er läßt es sich angelegen sein, dem Reich präszise und klare Gesetze zu geben. Parallel dazu erlebt die Kirche die gelasianische Renaissance, die sich bemüht, eine authentische kanonische Gesetzgebung auszuarbeiten, deren Charakter zugleich römisch und universal war. So bleibt Rom während der Völkerwanderung noch für eine gewisse Zeit ein Zentrum der Bildung, zu dem man aus ganz Italien, Afrika und Gallien zum Studium kommt.

Das benediktinische Mönchtum

            In diesem Kontext einer nur kurz währenden kirchlichen und gesellschaftlichen Erneuerung, in diesem kleinen geöffneten Fenster zur Zivilisation hin, schreibt ein unbekannter Autor die Regula Magistri. Und unter den Studenten, die von ihren Eltern zum Studium nach Rom geschickt wurden, befindet sich ein junger Mann aus Nursia: Benedikt. Als er in die Einsamkeit flieht, um der Dekadenz Roms zu entgehen, hat ihm die gelasianische Reform sowohl die lateinischen Übersetzungen der Mönchsregeln von Pachomius, Basilius und Augustinus als auch die Erfahrungen des provenzalischen Mönchtums zur Verfügung gestellt. Das Auftauchen Benedikts und seiner Regel wurde also möglich dank eines ganz kleinen Lichtblicks in einer Zeit der Barbarei, der die Frucht des gesunden Menschenverstands eines kultivierten Barbaren war: Kaiser Theoderichs. Benedikt seinerseits wird, wenn auch erst viel später, einen gewaltigen Einfluß ausüben nicht nur auf das abendländische Mönchtum, sondern über die ganze abendländische Gesellschaft, so daß er schließlich zum Patron Europas wurde.

            Nach Benedikt setzen sich zunächst die Invasionen fort, und die von ihm gegründeten Klöster verschwinden. Monte Cassino wird um 577 von den Langobarden zerstört. Benedikt hat keinen Nachfolger. Das, was man heute das benediktinische Mönchtum nennt, geht tatsächlich erst auf Gregor den Großen zurück, der ein Jahrhundert später in seinen Dialogen Benedikt unsterblich gemacht hat. Und nicht nur das: Gregor setzte auch einen entscheidenden Akt, der die Zukunft des benediktinischen Mönchtums bestimmen sollte, indem er Mönche aussandte, um England zu evangelisieren.

            Aber handelte es sich wirklich um Evangelisierung - oder eher um eine Romanisierung? In der Tat ist es so, daß das alte lateinische Christentum im Norden der britischen Inseln verschwunden war, seitdem die Römer mit dem Beginn der Völkerwanderung Britannien verlassen hatten. Aber es gab im Süden doch eine sehr lebendige Kirche keltischen Ursprungs, mit einer eigenen Liturgie, mit eigener Hierarchie und mit einem einheimischen Mönchtum, das Verbindungen zum ältesten orientalischen Mönchtum hatte. Insgesamt war es eine Kirche, die sehr verschieden war von der auf dem Kontinent! Diese Situation gefiel Papst Gregor nicht, der ein Römer bis in die Fingerspitzen war und sich Mühe gab, das ganze Abendland zu romanisieren. Deshalb sandte er Augustinus nach England. Paradoxie der Geschichte: als Augustinus das Kloster auf dem Monte Celio in Rom verließ, ging er den gleichen Weg, auf dem Kolumban nur sechs Jahre zuvor, im Jahr 590, auf den Kontinent gekommen war - in umgekehrter Richtung.

            So begann eine lange Zeit des Zusammenwirkens zwischen dem benediktinischen Mönchtum und den römischen Oberhirten oder jedenfalls der Einbeziehung des benediktinischen Mönchtums in die geistlichen oder politischen Reformprojekte der Päpste und der Kaiser.

Die karolingische Reform

            Es ward Abend und es ward Morgen: es brach ein neues Zeitalter der Invasionen und der Barbarei herein. Daraufhin kam die karolingische Reform, gewiß eine der größten Reformen der Kirche und der Gesellschaft des Abendlandes. In ihr erlangte das benediktinische Mönchtum seine für lange Zeit typische und kulturprägende Gestalt. Auf jeden Fall war es diejenige Reform in der Geschichte des Abendlandes, in der Kirche und Staat am engsten miteinander verbunden waren, so daß es manchmal zu einer totalen Verwechslung kam.

            Die Reform der Kirche und des Mönchtums, die Karl der Große nach seiner Kaiserkrönung  durch den Papst im Jahre 800 energisch anpackte, gehörte nach seiner Vorstellung zu dem großen Projekt militärischer und politischer Expansion, das er schon 771 in Angriff genommen hatte. Er träumte davon, das Kaiserreich Konstantins wiederherzustellen. Wenn diese Reform, obwohl sie von oben kam und nicht unbedingt einem an der Basis, in den einzelnen Klöstern empfundenen Bedürfnis entsprach, dennoch auch einen tiefen geistlichen Charakter trug, so deshalb, weil sie von einem großen geistlichen Menschen, dem heiligen Benedikt von Aniane, in die Hand genommen worden war. Das Ergebnis war unter anderem eine gewisse Verbundenheit unter den Klöstern, die bereits die künftigen großen Orden ankündigte. Praktisch erhielten damals alle Klöster im Westen die gleichen Strukturen und Lebensformen. Sie waren groß, mächtig und reich, feierten eine sehr ausgestaltete Liturgie, hatten Schulen und Hospize. Die Mönche lebten zumeist nicht mehr von der eigenen Hände Arbeit, sondern von Pachtzins, Schenkungen und Almosen. Die meisten Mönche hatten einen gewissen intellektuellen Firnis, während einige eine bessere Ausbildung erhielten, andere wirkliche Gelehrte waren. Es fehlte dieser Reform nicht an Größe, aber sie war zu sehr in die Machtstrukturen des karolingischen Reiches verflochten. Nach dem Tod Benedikts von Aniane, der die Seele der Reform gewesen war, ging der Eifer in den Klöstern sehr zurück und überlebte kaum das Reich der Karolinger, das schon bald zerfiel. Neue Wellen von Barbaren überrollten damals Europa: die Wikinger aus dem Norden, die Hunnen aus dem Osten, die Sarazenen im Süden. Ein neues dunkles Zeitalter brach über das Abendland herein.

Die Reform von Cluny

            Es ward Abend, und es ward Morgen: ein neuer Tag brach an mit der Reform von Cluny, die das von Benedikt von Aniane begonnene Werk, dessen Flamme noch in einigen Klöstern lebendig geblieben war, aufgriff und weiterführte. Auf den Ruinen des Karolingerreiches hatte sich im Lauf des 9. und 10. Jahrhunderts stufenweise ein erstes Zeitalter der Feudalgesellschaft herausgebildet. Damals waren Kirche und Staat weithin schrecklich miteinander verquickt, ja geradezu verwechselt. Wahrscheinlich litten die Klöster darunter am meisten, den sie wurden ständig ihrer Güter enteignet durch die adligen Herren, die ihnen auch die Äbte aufzwangen.

            Die Gründung von Cluny ging hervor aus der Begegnung zweier Männer, nämlich Wilhelms des Frommen, des Herzogs von Aquitanien und Grafen von Mâcon, der auf seinen Ländereien ein Kloster gründen wollte, mit dem edlen Berno. Dieser hatte auf seinem Besitz das Kloster Gigny gestiftet, ehe er in Autun Mönch wurde und mit der Hilfe des Grafen Rudolf von Burgund das Kloster Beaume wiederherstellte. Beide, Wilhelm und Berno, waren der Überzeugung, daß einer der wichtigsten Gründe für den traurigen Zustand der Kirche und des Mönchtums in der Unfähigkeit lag, sich gegen die Übergriffe der weltlichen Macht zu wehren. Deswegen sollte sich ihre neue Abtei von vornherein der libertas erfreuen und das Recht haben, ihre Äbte selbst zu wählen - selbst wenn de facto dann die ersten drei Äbte jeweils vor ihrem Tod ihren Nachfolger bestimmten.

Cluny verstand sich von Anfang an als ein Kloster, das dem Gebet und der Arbeit, der Observanz des gemeinsamen Lebens und einer maßvollen Askese gewidmet war. Aber diese Gründung war zugleich eingebunden in ein Zukunftsprojekt der Kirche und der Gesellschaft: Cluny war ein wichtiges Kettenglied in der Reformbewegung für die „Freiheit der Kirche“, die danach trachtete, nach und nach die Verwechslung zwischen dem weltlichen und dem geistlichen Bereich auszuschalten.

            Zugleich reagierte Cluny sensibel gegenüber den geistlichen Strebungen und Sehnsüchten seiner Zeit und entwickelte eine Frömmigkeit, die weitgehend zur Entfaltung der dem 11. Jahrhundert eigenen Spiritualität beitragen sollte. Es handelte sich um eine eher affektive Spiritualität, um einen ausgeprägten Sinn für das Gottsuchen, ein starkes kirchliches Bewußtsein und ein dynamisches Verständnis der Heilsgeschichte, verbunden mit einer deutlich eschatologischen Dimension.

Aber im Lauf der Zeit wurde Cluny auch selbst wieder zu einem wichtigen Teil der Feudalgesellschaft. Da es eine eifrige Gemeinschaft war, erhielt das Kloster viele Schenkungen von seiten der Großgrundbesitzer. Diese Schenkungen brachten Rechte mit sich über Fischereigebiete, Mühlen, Öfen, Viehherden und über die Arbeitskraft von Pächtern und hörigen Bauern. So verwirklichte es die patrimoniale Wirtschaft in großem Stil. Aber schon waren andere Kräfte am Werk, die nach und nach diese patrimoniale durch die Geldwirtschaft ablösen sollten. Dies löste im ausgehenden 11. Jahrhundert eine wirtschaftliche Krise für Cluny aus, die uns in die Epoche von Cîteaux führt.

Die gregorianische Reform und die Armutsbewegung

            Nach einer kurzen Erneuerung des Reiches unter dem Schutz der ottonischen Kaiser brach sich eine weitere Kirchenreform Bahn, die als die gregorianische Reform bekannt ist - auch wenn sie schon lange vor Papst Gregor VII. (1073-1085) begonnen hatte und nach seinem Tode noch weiterging. Hervorgerufen wurde sie durch eine Bewegung christlichen Lebens nach dem Evangelium, die das ganze Volk Gottes in Schwung brachte. Diese Erneuerung des christlichen Lebens war nicht mehr das Privileg einiger erleuchteter Aristokraten, sondern entsprang den Massen. Man fand darunter Männer und Frauen, Ehelose und Verheiratete, Kleriker und Laien. Und sie erreichte auch alle Formen religiösen Lebens: Domherren, Mönche und Einsiedler.

            In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts hatten Reformer wie Romuald in Camaldoli und Johannes Gualbert in Vallumbrosa Armut und Buße zum Motiv ihres Handelns und zum Herzstück ihrer Reform gemacht. Nun erreichte dieses Ideal der Armut und der Buße das gesamte Gottesvolk. Der erste Kreuzzug, der sich zur Zeit der Gründung von Cîteaux in Bewegung setzte, erscheint als eine peregrinatio pauperum, eine Pilgerfahrt der Armen zur heiligen Stadt, eine Bewegung der individuellen und kollektiven Läuterung, gefördert von Papst Urban II. und Petrus dem Einsiedler. Auch der Jakobusweg nach Compostela ist voll von Büßern, die sich auf die Predigt der Einsiedler hin bekehrt hatten, und weitere Scharen von Büßern laufen allen möglichen Wanderpredigern hinterher.

            Diese oft etwas wild wuchernden Bewegungen erschüttern natürlich das traditionelle mönchische Schema der ordines, der „Stände“, wie es Anfang des 11. Jahrhunderts von Abbo von Fleury (+ 1004) und Adalbero von Laon (+1030) formuliert worden war. Während die Kleriker, die Domherren und die Mönche noch darüber diskutieren, welcher Ordo sich an der Spitze der Leiter befinde, fangen die Laien schon an zu behaupten: non ordo sed modus vivendi, „nicht der Stand ist entscheidend, sondern die Lebensweise“! Unter der Menschenmenge, die den Wanderpredigern folgt, findet man alle Arten von Menschen: frühere Dirnen an der Seite heiliger Eremiten, Leute aus dem einfachen Volk an der Seite von Adligen.

            Gleichzeitig zeigt sich innerhalb und außerhalb der Klöster ein neues Interesse an den Kirchenvätern. Man liest Ambrosius, Augustinus, Hieronymus, Hilarius, Boëtius und Cassiodor. In den Klöstern kommen Beda Venerabilis, Rhabanus Maurus, Alkuin und auch die jüngeren Autoren wie Petrus Damiani, Yvo von Chartres und Anselm von Canterbury zu Ehren. Aber mehr noch als alle anderen wird Cassian gelesen, und seine Unterredungen hatten den größten Einfluß auf die Erneuerung des Eremitentums im 11. Jahrhundert. Auch darf man Origenes nicht vergessen, dessen Schriften seit dem 9. Jahrhundert sehr viel gelesen werden, wenn auch meist unter einem anderen Namen.

            Wir befinden uns in einer Epoche von großer intellektueller Schöpferkraft. Man gibt sich nämlich nicht damit zufrieden, die Väter zu lesen und abzuschreiben. Auf dem Gebiet der Spiritualität entwickelt sich das Bedürfnis nach einer persönlichen Beziehung zu Christus: Man will den Herrn Jesus nachahmen, einen menschlichen Christus, dem Vater unterworfen, demütig und voller Mitgefühl für seine Brüder, bis hin zur Annahme des Leidens und des Kreuzestodes. Von nun an wird die Frömmigkeit mehr affektiv als spekulativ. Und in der gleichen Richtung entwickelt sich auch die Verehrung der Allerseligsten Jungfrau Maria. Selbst im einfachen Volk ist ein Durst nach Kontemplation feststellbar. Die mittelalterlichen Autoren gebrauchen oft das von Cassian so gern gebrauchte Wort theoria. In Beziehung zu dieser Kontemplation der göttlichen Dinge scheinen alle die Dinge der äußeren Welt nur zur Zerstreuung zu führen.

            Diese geistliche Bewegung war zugleich ein gesellschaftliches Phänomen. Denn der vielleicht neueste Aspekt war, daß die Ungebildeten und Armen, die bislang in der Kirche und in der Feudalgesellschaft kaum einen Platz hatten, ihre Stimme hören zu lassen begannen. Zugleich aber war es auch die Zeit der Geistesgrößen wie Petrus Damiani, Lanfranc, Anselm und bald darauf Brunos, Bernhards, Gratians und vieler anderer. Und das Wunderbare daran war, daß die Kleinen und die Großen, die Demütige und die Berühmten alle die gleiche Botschaft verkündeten, wenn auch in unterschiedlichem Stil. In aller Herzen lebten die gleichen Sehnsüchte und Strebungen.

            Das Ergebnis dieses Hungers nach Gott und dieses Gott-Suchens, die im abendländischen Europa fast alles durchdrangen, genährt durch die Verkündigung der Wanderprediger, die sich pauperes Christi,  „Arme Christi“ nannten, war eine stufenweise Entwicklung im Verständnis der kirchlichen Situation. In der Bevölkerung entwickelte sich im allgemeinen eine stillschweigende Übereinstimmung bezüglich der Erwartungen an den ordo monasticus, den Mönchsstand und seine Lebensweise. Der Erfolg der großen Reformen, die schließlich am Ende des 11. Jahrhunderts zum Durchbruch kamen, erklärt sich zuerst aus dieser Tatsache, daß sie nämlich einer starken Bestrebung des gesamten christlichen Volkes entsprachen - ganz im Gegensatz etwa zur karolingischen Reform, die von oben auferlegt worden war.



[1] Peter Brown gibt in seinem Buch The Body and Society zu Beginn des Kapitels über Ambrosius eine gute Beschreibung der Situation, in der sich die Asketen zu den Zeiten von Ambrosius, Augustinus und Hieronymus befand.