Teil VI:

Die monastische Subkultur

und die Formung des Mönchs

            Der erste Teil dieser Reihe fragte, in welcher Beziehung das Mönchtum zu der Kultur steht, in der es gelebt wird; der zweite Teil behandelte die Anfänge des Mönchtums im Orient und seine »kulturstiftenden« Lebensformen. Im dritten Teil zeigte der Gang durch die Geschichte des abendländischen Mönchtums vor Cîteaux die vielfachen Beziehungen zur kulturellen Entwicklung Europas auf. Der vierte Teil versuchte, die wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen der Zisterzienser mit der Gesellschaft ihrer Zeit zu charakterisieren. Im fünften Teil wurden die geistesgeschichtlichen Umwälzungen der Neuzeit und ihre Rückwirkung auf die Gestalt des Mönchtums in den Blick genommen. In diesem sechsten Teil geht es um die Frage, wodurch der Mönch eigentlich geformt wird. Die prägende Rolle der Kommunität und der in ihr wirksamen monastischen Subkultur wird häufig unterschätzt.

            Der Begriff „Subkultur“ im Zusammenhang mit dem Mönchtum mag verwundern, ist er doch – zumindest im deutschen Sprachraum – eher negativ besetzt. Im ersten Hauptteil dieses Artikels wird deutlich werden, in welchem Sinn er hier gemeint ist. Hier sei nur vorweggenommen, dass ich damit  nicht die Philosophie oder Theologie oder sonstige Gedankengebäude meine, mit deren Hilfe die Mönche einst versucht haben und heute noch versuchen auszudrücken, welchen Sinn sie ihrem Leben geben wollen. Vielmehr meine ich den konkreten Lebensstil, durch den ihr Gottsuchen, die Sinngebung ihres Lebens Ausdruck findet: das, was die Alten einst die politeia oder conversatio nannten. Dieser Lebensstil drückt sich z.B. in einer eigenen Weise des Betens, der lectio divina und der Studien aus, in der Art und Weise ihres Arbeitens, in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen sowie in  einer bestimmten Ausgewogenheit und inneren Einheit, die sie zwischen den verschiedenen Elementen ihres Lebens herzustellen versuchen.

Was geschieht im Prozess der „Formung“ ?

            Der zweite wichtige Begriff unseres Untertitels lautet „Formung“. Er steht für das englische und französische formation, das heute in Ordenskreisen oft unübersetzt stehen bleibt, weil es im Deutschen nicht mit einem einzigen Wort wiedergegeben werden kann. „Formung“ meint sowohl die anfängliche Ausbildung für das Ordensleben, eine umfassende Bildung und Erziehung der neu eingetretenen Mitglieder im Noviziat und Juniorat, als auch die ständige Weiterbildung aller Mitglieder.

            Das gemeinschaftliche Leben im Kloster beeinflusst auf vielerlei Weise die Formung der einzelnen Mönche wie auch der monastischen Kommunität insgesamt und muss deshalb als ein wichtiger Bildungsfaktor wahrgenommen werden. Allerdings gibt es heute zwei völlig unterschiedliche Auffassungen davon, wie Bildung und Erziehung sich abspielen. Man unterscheidet zwei Haupttypen der Pädagogik oder Lehrmethoden: die mechanische und die organische. In der Tat könnte man sich Bildung als einen gewissermaßen mechanischen Prozess vorstellen, der zum Ziel hat, dem Kopf und dem Verhalten des Schülers eine Summe von genau festgelegten Inhalten einzutrichtern. In dieser Sicht wird vorausgesetzt, dass es einen Schatz an Kenntnissen und Verhalten gibt, der von der Gesellschaft im Lauf der Geschichte angesammelt wurde und durch Erfahrung erprobt ist Die Ausbildung besteht darin, diesen Schatz dem Schüler einzuflößen, der sich ihn dann aneignen muss. Der berühmte „Nürnberger Trichter“ ist ein treffliches Symbol für diese Art von Pädagogik.

            Doch kann man die erzieherische und bildende Tätigkeit auch auf andere Weise sehen: nicht als mechanischen Vorgang, sondern als einen Wachstumsprozess. Für die organische Pädagogik ist der Schüler selbst der Hauptakteur bei jeder ausbildenden und erzieherischen Bemühung. Er könnte also mit einer Pflanze verglichen werden, die organisch wächst. Wenn diese auch bereits in sich (potenziell) alle Anlagen und Kräfte zum Wachsen besitzt, so bedarf sie doch eines günstigen Milieus mit fruchtbarem Boden und entsprechendem Klima. Erziehen, ausbilden, „formen“ bedeutet dann vor allem, dieses Milieu zu schaffen, das Wachstum und Entfaltung der persönlichen Anlagen des Einzelnen fördert. Wenn man sie so auffasst, wird die Ausbildung oder „Formung“ zu einer Angelegenheit, die das ganze Leben in Anspruch nimmt.

            Es ist klar, dass hinter diesen beiden Auffassungen auch zwei unterschiedliche Menschenbilder stehen. Nach dem ersten wird der Prozess der Mensch-werdung aufgefasst als eine durch Lernen ermöglichte Bereicherung, nach dem zweiten als eine Entfaltung. Das erste respektiert weder das Geheimnis, dass jeder Mensch ein Individuum ist, noch das unvorhersehbare Wirken Gottes. Es löst die Geschichtlichkeit des Handelns Gottes in eine falsche eschatologische Perspektive auf, die darin gipfelt, dass die Geschichte als abgeschlossen betrachtet wird. Das zweite dagegen respektiert das Geheimnis einer jeden Person und setzt ihr Vertrauen auf die Lebensdynamik, die der Mensch in sich trägt. Es ist ein maieutischer Prozess, der helfen soll, das, was der Schüler bereits keimhaft in sich trägt, bis zur Vollgestalt wachsen und reifen zu lassen.

            Unnötig zu sagen, dass sich diese beiden Auffassungen auch im monastischen Leben finden lassen. Man kann die Formung zum Mönch verstehen als ein Kleid, das einem übergezogen wird, oder als eine Form, in die man sich einfügt und von der man sich prägen lässt, ein Ideal, nach dem man gemessen und beurteilt werden kann. Man kann aber auch der Ansicht sein, dass das Wesentliche im Mönchsleben eine spirituelle Erfahrung ist, deren Durchbruch man zu fördern vermag, die aber weder unmittelbar geweckt noch mitgeteilt werden kann. Sie muss im Herzen des Jüngers selbst aufspringen, wo sie ein reines Gnadengeschenk Gottes ist. Aber das unmittelbare Umfeld beeinflusst sie immer, ermöglicht sie, macht sie leicht oder schwierig oder unmöglich – je nach den Umständen.

I. Die Kultur und die monastische Subkultur

            Jede menschliche Erfahrung wird innerhalb eines bestimmten kulturellen Umfeldes gemacht – das ergibt sich aus der conditio humana selbst, der Bedingtheit der menschlichen Existenz. Sobald daher die allgemein herrschende Kultur der Umgebung die Suche nach einer bestimmten Art von Erfahrung nicht mehr oder nicht genügend unterstützt, erscheinen Sub-Kulturen, die ausdrücklich auf diese spirituelle Suche hingeordnet und dafür eingerichtet sind. So kam es, dass innerhalb aller großen Kulturen der Menschheit auch das Mönchtum auftauchte und sich entwickelte, vor allem in Zeiten großer kultureller und gesellschaftlicher Umwälzungen.

            Eine solche Subkultur ist im allgemeinen von Anfang an ein Faktor der persönlichen Integration. Sie entspricht der Art der spirituellen Erfahrung, die jene gemacht haben oder suchten, die sich die Subkultur schufen oder in sie eintraten. Sie kann sie zur Entdeckung ihrer eigenen Identität führen und ihnen helfen, einen höheren Grad persönlicher Integration zu erreichen. Das geschieht vor allem in den Anfangszeiten einer Subkultur, während sie in völliger Entsprechung mit der Art spiritueller Erfahrung steht, die sie hervorzubringen oder zu entfalten sucht. Aber in dem Maß, als die Entsprechung abnimmt zwischen der Subkultur und der spirituellen Erfahrung derer, die ihr angehören, kann sie sich ins Gegenteil verkehren und immer mehr zu einem Faktor der Entfremdung werden, indem sie die Mitglieder nicht mehr zu ihrer persönlichen Identität führt, sondern dazu, sich einfach mit einem äußerlichen Modell zu identifizieren.

            Sobald das geschieht, wird die Subkultur verstärkt zu einem Faktor der sozialen Integration. Nicht mehr die persönliche Integrität, die ganzheitliche Entfaltung der Person, sondern die Eingliederung in den gesellschaftlichen Rahmen steht an erster Stelle. Auf diese Weise festigt und bestärkt die Subkultur die allgemein herrschende Kultur. Anstatt das Individuum zur eigenen Identität jenseits der umgebenden Kultur zu führen, bringt sie es dazu, sich mit dieser zu identifizieren und sich somit einzugrenzen, zu beschränken. Man kann hier die Kategorien C.G. Jungs erkennen: seiner Meinung nach ist die erste Lebenshälfte des Menschen vorwiegend bestimmt von der Aufmerksamkeit auf das, was zu seinem Ego beiträgt. Er ist ganz mit dem beschäftigt, was er tut, und identifiziert sich damit: mit den Rollen, die er spielt, mit den Aufgaben, die er erfüllt. Es handelt sich dabei um eine falsche Identifikation mit dem oberflächlichen, empirischen Ich. In der zweiten Lebenshälfte – angenommen, er gelangt wirklich zu einem Erwachsenendasein -, tritt er in engeren Kontakt mit seinem inneren Selbst, seiner wahren Identität. Erst dann wird er fähig zu einer unmittelbaren Begegnung oder Erfahrung. Je nachdem, wie gesund sie ist, kann die monastische Subkultur – wie jede andere Subkultur – ihre Mitglieder entweder zu einer Identifikation oder zu ihrer wahren Identität hinführen.

Die Entwicklung christlicher Subkultur und das Aufkommen des Mönchtums

            Das Christentum verwurzelte sich in der religiösen Kultur Israels. Im Schoß des Judentums selbst bestand bereits eine starke asketische Bewegung, die auf eine kontemplative Begegnung mit Gott ausgerichtet war. Diese Bewegung hat die ganze Urkirche sehr geprägt. Daher konnten in den ersten christlichen Generationen alle Gläubigen, die den Ruf verspürten, sich einer intensiveren Suche nach Gotteserfahrung durch ein Lebens radikaler Askese zu weihen, dies inmitten ihrer örtlichen Gemeinde unter der Leitung ihrer Hirten tun. Als das Bedürfnis danach aufkam, fanden sie sich zu Bruderschaften zusammen, immer jedoch unter der Leitung ihres Bischofs. Das war beispielsweise bei den kleinasiatischen Gruppen der Fall, von denen der heilige Ephrem und der heilige Aphrahat berichten, deren Mitglieder sich „Söhne des Bundes“ und „Töchter des Bundes“ nannten. Gewisse erwachsene Christen, die auf ihrem geistlichen Weg gereift waren, verließen dann später manchmal die kirchliche Gemeinde, um ihren spirituellen Weg in der Wüste fortzusetzen.

            In der weiteren geschichtlichen Entwicklung erschien dann, als sich die Strukturen der Kirche entfalteten und es für bestimmte Christen schwieriger wurde, ihre persönliche Erfahrung mit diesen Strukturen in Einklang zu bringen, nach und nach das eigentliche Phänomen „Mönchtum“, und es entwickelte sich im 4. Jahrhundert mit der Geschwindigkeit einer Kettenexplosion. Dieses Phänomen entfaltete sich gleichzeitig in zwei Richtungen. Scharen von Christen zogen in die Wüste hinaus, um dort in der Einsamkeit ihre geistlichen Erfahrungen zu leben – außerhalb der sie umgebenden christlichen Kultur, aber unter der Leistung eines charismatischen geistlichen Vaters. Andere jedoch vereinigten sich zu Gruppen, die am Rande der großen kirchlichen Gemeinschaft, aber nicht notwendigerweise getrennt von ihr, eine echte Subkultur schufen, dazu bestimmt, das Mistbeet oder die Matrix für eine bestimmte Art spirituellen Suchens und geistlicher Erfahrungen zu werden.

Die Entstehung des Zönobitentums

            Diese Gemeinschaften, die sich zur monastischen Subkultur der zönobitischen Art entwickelten, wurden im allgemeinen aus dem Charisma eines großen Mönchvaters gezeugt, der die Gabe besaß, Menschen um sich zu sammeln. So bei Pachomius: Vom Augenblick seiner Bekehrung zum christlichen Glauben an begab er sich voll Eifer auf die Suche, was der Wille Gottes für ihn sei. Schritt für Schritt entdeckte er durch den Lauf der Ereignisse und das Wort Gottes, dass es seine Sendung war, „Menschen zu sammeln, um sie zu Gott zu führen.“ So auch bei Basilius, der schrittweise in seiner Bischofsstadt Menschen um sich sammelte, die durch die asketische Unterweisung des Eustatius von Sebaste erweckt waren, und ihrem Suchen einen Rahmen gab. Die besondere Gnadengabe des Grün­ders einer solchen Gemeinschaft, die einen Lebensstil entwickelte, der günstige Wachstumsbedingungen für die persönliche spirituelle Entfaltung einer großen Zahl von Mönchen bot, war allerdings ziemlich verschieden von der eines geistlichen Vaters in der Wüste, der in der Einsamkeit gewissermaßen die Rolle übernommen hatte, die in der antiken Stadt dem didaskalos oder Lehrer zukam.

            In den zönobitischen Gemeinschaften, wo wenigstens während der ersten Generation die Subkultur in vollkommenem Einklang mit der gelebten geistlichen Erfahrung stand, fand der einzelne da­durch, dass er sich in die Gemeinschaft integrierte, zugleich zu seiner persönlichen spirituellen Identität. Im Lauf der Generationen wandelten sich nach und nach die geistlichen Bedürfnisse, und so nahm die Übereinstimmung zwischen der monastischen Subkultur und der spirituellen Erfahrung, die der einzelne Mönch suchte und lebte, allmählich ab. Mönche von stärkerem Charakter versuchten dann, diesen Rahmen und diese Subkultur zu überschreiten, wie jene, die einst hinausgezogen waren in die Wüste. Innerhalb der Gemeinschaften selbst machte sich das Bedürfnis nach einem geistlichen Führer spürbar, der die einzelnen auf ihrem persönlichen Weg leiten könnte. So wurde nach und nach die Rolle, die der geistliche Vater in der Wüste gespielt hatte, im Schoß der Gemeinschaft vom Abt übernommen. Das sollte nicht ohne ernsthafte Folgen für die Zukunft des Mönchtums bleiben.

Abt oder geistlicher Vater?

            Die Rolle des geistlichen Vaters in der Wüste besaß – ähnlich wie die des Guru im Hinduismus oder des Starzen in Russland – einen eindeutig charismatischen Charakter und war von daher ziemlich marginal. Er half dem Schüler, seine eigene Identität zu entdecken, jenseits der Kultur und der ihn umgebenden Strukturen. Der Abt eines zönobitischen Klosters hingegen ist der Hüter einer Subkultur und einer Struktur. Er muss darüber wachen, dass jeder seiner Mönche sich ihr anpasst und sich mit ihr identifiziert. Von dem Augenblick an, da sich im Westen die zönobitische Tradition mit der Spiritualität der Wüste verband und der Abt des Klosters zugleich die Aufgabe übernahm, die in der Wüste der geistliche Vater gehabt hatte, wird diese Aufgabe durch das zönobitische System vereinnahmt und in Dienst genommen. In der Folge wird das Mönchtum immer viel leichter zu einem wirksamen Mittel kultureller Konsolidierung als zum Faktor persönlicher Integration.

Es ist ja bekannt, dass jede gesellschaftliche Struktur, vor allem dann, wenn sie stark ist, zur Verfestigung tendiert und sich verewigen möchte. Zu diesem Zweck wird sie alle Energien, die sie aufzubringen vermag, einsetzen und weiter entfalten. Die großen Epochen der Erneuerung in der Ge­schichte des Mönchtums waren jene, in denen die Energien, die sich nicht vereinnahmen ließen, eine schöpferische Existenz „am Rande“ führten und eine neue politeia oder Subkultur wieder erfunden haben, die in Einklang stand mit dem religiösen Empfinden der Zeit.

Das Benediktinertum: die monastische Subkultur des Westens

            Das benediktinische Leben ist die bevorzugte Ausdrucksform der westlichen monastischen Subkultur, die über den Magister und Johannes Cassian in der großen östlichen Tradition verwurzelt ist. Benedikt hat diese Lebensform ausdrücklich als eine formation, eine „Schule des Herrendienstes“ konzipiert. Es handelt sich um eine politeia, eine Weise, das Evangelium zu leben, in der gewisse Forderungen des Evangeliums eindeutig Vorrang haben und bestimmte asketische Praktiken streng gefordert sind. Zwischen den verschiedenen Elementen dieser politeia versuchte man, eine bestimmte Ausgewogenheit herzustellen: es findet sich in ihr eine Askese, die ein bestimmtes Menschenbild stützt, eine Liturgie und eine Mystik, die eine Theologie vermitteln, eine Organisation der zwischenmenschlichen Beziehungen, die zum Träger einer gesellschaftlich-politischen Philosophie wird.

            Diese benediktinische Subkultur hat die Jahrhunderte überdauert, wobei sie ebensogut goldene Zeiten las auch Perioden des Niedergangs und darauf folgender Erneuerungsbewegungen kannte. Wie eine jede Subkultur war sie abwechselnd – je nach Epochen, Orten und Personen - ein Faktor persönlicher Integration oder ein Faktor der kulturellen Konsolidation. Gewiss können wir uns nicht dabei aufhalten, diese ganze Geschichte zu untersuchen, aber sehen wir einmal, was heute los ist.

II. Die Formkraft der benediktinischen Kommunität heute

            In diesem zweiten Teil geht es um den formenden Einfluss und den erzieherischen Wert einer von der Benediktsregel geprägten Gemeinschaft. Hier möchte ich vor allem Fragen aufwerfen, um zur Analyse und zum Gespräch darüber einzuladen. Es sind Fragen, die zu stellen mir wichtig scheint, auch wenn ich in den meisten Fällen noch keine Antwort weiß – oder jedenfalls keine klare Antwort. Was die einzelnen Elemente des monastischen Lebens betrifft, laufen diese Fragen praktisch auf fol-  gende hinaus:

- Herrscht eine angemessene Entsprechung zwischen dem, was wir tun, und der spirituellen Haltung, die wir durch dieses Tun ausdrücken oder entwickeln wollen?

- Formen uns die verschiedenen Elemente unseres Lebens indirekt (und obwohl wir es vielleicht nicht wollen) so, dass wir uns an die allgemeine profane Kultur anpassen, die uns umgibt, oder stellen sie noch immer eine Subkultur dar, die wirksam eine bestimmte Art geistlicher Erfahrung hervorzubringen und zu unterstützen vermag?

1. Die Arbeit und die Zivilisation des heutigen homo oeconomicus.

            Sprechen wir zuerst von der Arbeit und von der gesamten Wirtschaftsstruktur, die von ihr abhängt. In allen Kulturen der Vergangenheit bestand das große religiöse Verlangen des Menschen, mag es sich auch unterschiedlich ausgedrückt haben, im wesentlichen stets darin, die göttliche Gegenwart zu erfahren und am Leben Gottes teilhaben zu dürfen. Zu Beginn unserer gegenwärtigen Epoche hat sich hierin jedoch ein entscheidender Umschwung vollzogen. Das scharfe Bewusstsein der ontologischen Entwicklung der Menschheit bei Hegel, der gesellschaftlichen Entwicklung bei Marx, der physiologischen Entwicklung bei Darwin und der Einschätzung des zeitgenössischen Men­schen als einer Zwischenstufe zum Übermenschen bei Nietzsche hat dazu geführt, dass man die Religion oder das letzte Ziel des Menschen nicht mehr im Leben mit Gott sieht, sondern in der Erfahrung einer autonomen irdischen Welt, in der er seine Vollkommenheit einfach durch die eigene gesellschaftliche Transformation und durch die technische und wissenschaftliche Beherrschung seiner Umwelt erreichen wird. Die gesellschaftlichen Ideologien und die Sozialwissenschaften sind zur Ersatzreligion, zum Surrogat der Mystik geworden. Mit dieser „mystischen“ Dimension und ihrer äußeren Effektivität konnte die Wissenschaft vorgeben, nicht nur eine Analyse der menschlichen Situation zu bieten, sondern auch eine Weise, diese zu verwandeln.

            Die geschichtliche Entwicklung hat also ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte heraufgeführt, das des homo oeconomicus. Die erste und wichtigste Sorge des Menschen gilt nunmehr materiellen Dingen. Wir leben heute in den Industrienationen in einem kulturellen und sozialen Kontext, der ausdrücklich und zutiefst atheistisch ist, der ohne Gott auskommt. Und das kann nicht ohne schwerwiegende Folgen für all jene abgehen, die immer noch danach streben, in der Erfahrung der Gegenwart Gottes zu leben.

Die Konsumgesellschaft

            Ein charakteristisches Kennzeichen dieser Gesellschaft ist die große Bedeutung, die der Konsum bekommen hat. Nicht nur, dass sich die Konsumhaltung auf alle menschlichen Werte erstreckt! Nein, der Konsum nimmt den ersten Rang ein und wurde zum ideologischen Antrieb für die gesamte Gesellschaft. Die Beziehung zwischen Bedürfnissen, Produktion und Konsum ist ungültig geworden, ja ins Gegenteil verkehrt: Man produziert nicht mehr das, was der Mensch verbrauchen muss, um seine wahren Bedürfnisse zu stillen, sondern man schafft künstliche Bedürfnisse, um den Verbrauch anzukurbeln, damit dieser zur Steigerung der Produktion führe. Mehr noch: der Konsum selbst bringt neue Bedürfnisse hervor! Dieser Prozess ist von Drogensüchtigen her gut bekannt. Ivan Illich sprach vom „Gesetz der wachsenden Hoffnungen“, und Heidegger taufte ihn den „Kreislauf der verführe­rischen Stillung der Bedürfnisse.“ Man konsumiert zunächst vor allem um des Vergnügens willen, das der Konsum bereitet, sodann, um die Frustration verschwinden zu lassen, die aus fehlenden Vergnügen stammt, und dann wird man immer mehr frustriert, gerade indem man mehr und mehr konsumiert ...

            In unserem „entwickelten“ Ländern hat die Absättigung zunächst der primären und dann auch der sekundären Bedürfnisse des Lebens dazu geführt, dass sich der Konsum auf einen tertiären Bereich verlagert hat, den der Dienstleistungen, wie z.B. Bildung, Pflege und soziale Dienste, und zwar so, dass diejenigen, denen diese Dienstleistungen gelten, zur Zielgruppe der Werbung geworden sind, denselben Gesetzen des Marketing unterworfen wie die materiellen Konsumgüter.

            Von daher müssen wir uns fragen, ob die wirtschaftliche Organisation und vor allem die Arbeit unserer monastischen Gemeinschaften uns wirklich zu einer anderen Art von Gesellschaft formen. Es ist ja in der Tat möglich, dass auch unser Lebensstil von diesem Primat der Wirtschaft und der Konsum-Haltung so sehr beeinflusst wird, dass wir unbewusst die gleiche Mentalität entwickeln. In welchem Maß sind unsere Kommunitäten diesem Einfluss unterworfen und inwieweit tragen sie folglich indirekt dazu bei, eine solche Geisteshaltung zu wecken und zu unterstützen? Das ist die Frage, die wir uns stellen müssen. Wenn wir zugeben, dass die Gemeinschaft uns formt, dann ist es wichtig, im einzelnen zu untersuchen, auf welches Ziel hin sie uns formt, was sie aus uns macht!

            Ich schlage vor, dass wir an erster Stelle prüfen, aus welchen Quellen unsere Einkünfte stammen, und dann die gesamte wirtschaftliche Organisation unserer Klöster unter die Lupe nehmen. Viele von ihnen, wenn nicht sogar die Mehrzahl, leben gegenwärtig von einer kleinen Industrie. Handelt es sich um ein Unternehmen, das wirklichen Bedürfnissen entspricht, oder um eine Industrie, die künstliche Bedürfnisse schafft und befriedigt? Stellen wir etwas her um der Produktion willen, indem wir als gesichert betrachten, dass es immer Konsum geben wird, oder haben wir zuvor eine objektive Analyse der Bedürfnisse durchgeführt? Spielen wir mit im Spiel der Konsumgesellschaft und der Werbung, die Bedürfnisse zu wecken sucht?

Das benediktinische Arbeitsethos

            Die Bedeutung, die in der benediktinischen Tradition der Handarbeit zugemessen wird, die benediktinische Spiritualität der Arbeit, wurzelt in der theologischen Auffassung, dass der Mensch durch seine Arbeit teil hat am Werk der Schöpfung. Hier finden wir eine positive Sicht des Leibes, die im Gegensatz steht zu der negativen Einstellung, die ein Erbe des Manichäismus und der neuplatonischen Philosophie ist und von der auch verschiedene Schulen der Askese beeinflusst wurden. Wir müssen uns fragen, ob die Arbeitsmethoden, die im 20. Jahrhundert in unseren Klostergemeinschaften eingeführt wurden, noch diese positive Sicht des menschlichen Leibes spiegeln, oder ob sie nicht indirekt jene Missachtung oder Verachtung des Leibes nach sich ziehen und fördern, die von bestimmten Produktionsweisen, vor allem von der Fließbandarbeit, hervorgebracht wird.

            Selbst die Landwirtschaft muss bei dieser Frage auf den Prüfstand. In der Vergangenheit war die Arbeit auf den Feldern eine der friedvollsten Tätigkeiten, die man sich denken kann. Indem sie den Menschen mit der Natur in Berührung brachte, formte sie ihn und weckte in ihm ein kontemplatives Gespür, jene Art von Weisheit, die man heute kaum noch findet, außer bei unseren alten Bauersleuten. Führt uns die gegenwärtige, stark mechanisierte und spezialisierte Landwirtschaft noch zu einer solchen seelischen Verfassung, oder formt sie nicht vielmehr in uns die gleiche innere Haltung wie jede beliebige Fabrikarbeit? In allen entwickelten Ländern sind Ackerbau, Viehzucht und Forst­wirtschaft zu einem der anspruchvollsten Produktionszweige geworden, was die materiellen Investitionen und die Verwaltung angeht. Darüber hinaus unterhalten und fördern bestimmte Arten der Landwirtschaft eine Ernährungsweise, die den gerechten Ausgleich zwischen den Völkern hindert und sogar den Hunger in weiten Teilen der Menschheit aufrechterhält – wenn wir beispielsweise in Europa Getreide zur Rindermast verfüttern, das in anderen Erdteilen Menschen ernähren könnte.

            Der heilige Benedikt hatte vorgesehen, dass die Klöster innerhalb ihres eingefriedeten Bereichs alles für die Gemeinschaft Notwendige besitzen sollten, wie etwa eine Mühle, verschiedene Werkstätten usw., damit die Mönche „nicht draußen herunlaufen“ müssten und ihre Einsamkeit und Stille  gesichert sei. Heutzutage führt die gleiche Situation oft zu entgegengesetzten Ergebnissen. Die Beziehungen der verschiedenen Amtsträger und Arbeitsvorsteher zur Außenwelt vermehren sich: sie müssen Rohstoffe und Maschinen einkaufen, die Erzeugnisse verkaufen und eine technische Ausbildung oder Unterstützung bekommen. Oft ist es auch nötig, in Gebäude und Maschinen zu investieren, in einem Ausmaß, das in völligem Missverhältnis zur Anzahl der Mönche steht. Allein die Tatsache, dass sie diese eigenen Produktionsmittel und Einkommensquellen besitzen, macht die Mönche außerdem zu einem privilegierten Teil der Bevölkerung und trägt dazu bei, in ihnen die gleiche Mentalität zu formen, die selben Zielvorstellungen und Sorgen wie auch die gleichen ideologischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven in ihnen herauszubilden, die jene Minderheit der Gesellschaft bestimmt.

            Ich glaube, dass es an der Zeit ist, uns ernsthafter als bisher mit der Frage der Lohnarbeit auseinander zu setzen. In vielen Fällen und unter bestimmten Bedingungen würde sie es, wie mir scheint, uns erlauben, viel leichter die Ziele zu erreichen, die der heilige Benedikt mit der wirtschaftlichen Autarkie beabsichtigt hatte. Sie könnte uns auch helfen, andere grundlegende monastische Werte zu schützen, wie zum Beispiel die gemeinschaftliche Armut. Um in dieser Welt der Inflation, in der wir heutzutage leben, fortbestehen zu können, müssen wir viel Geld verdienen; deshalb geschieht es leicht, dass unsere Arbeit mehr auf das Geld als auf das Leben ausgerichtet ist. Dadurch werden wir zu einem Bestandteil, einem Rädchen im Getriebe der kapitalistischen Konsumgesellschaft, in der wir leben; damit heißen wir diese Art von Gesellschaft gut und unterstützen sie, anstatt dass wir in ihrem Schoß eine Subkultur bilden, die sie kritisch hinterfragt.

            In seinen Veröffentlichungen zur Schule, zur Medizin und zum Verkehrswesen hat Ivan Illich gezeigt, wie die absurde industrielle Produktion von Dienstleistungen ebenso katastrophale und zerstörerische Auswirkungen hat wie die Überproduktion von Gütern. Schon vor dem Zweiten Bericht des „Club von Rom“ sprach Illich von den Grenzen der Produktion und auch von den Grenzen des Wachstums der Dienstleistungen in der Gesellschaft. Er stellte diesem Missverhältnis das Konzept eines „mehrdimensionalen Gleichgewichts“ des menschlichen Lebens und der Beziehungen des Men­schen zu seinem Arbeitsgerät gegenüber. Kommt die Schwierigkeit, die viele unserer Klostergemein­schaften heute empfinden, wenn sie das rechte Gleichgewicht zwischen Arbeit, Gebet, lectio divina und den anderen Elementen des monastischen Lebens finden und aufrechterhalten wollen, nicht daher, dass wir uns haben abhängig machen lassen von der materiellen Ideologie und den Praktiken einer Industriekultur?

            Die unerbittliche Logik und die totale „Vernünftigkeit“, denen diese industrielle Zivilisation gehorcht, ist eine Quelle etlicher Formen der Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Bestimmte gesellschaftliche Klassen werden von anderen ausgebeutet. Nur ein geringer Teil der Menschheit lebt im Überfluss, während zwei Drittel der Menschen von den Wirtschaftsstrukturen in einem Zustand der Unterentwicklung, der Abhängigkeit und oft auch des Elends gehalten werden. Durch unseren Lebensstil, insbesondere durch unsere Einkommensquellen und durch die Art der Verbindungen, die sie schaffen, sind wir zutiefst mit diesem System verbunden, das ein System der Ausbeutung ist und eine kollektive soziale Sünde darstellt. Unsere monastische Subkultur in ihrer gegenwärtigen Gestalt formt uns so, dass wir diese sündhafte Situation normal finden. Die Lösung dieser Schwierigkeit ist keineswegs leicht, aber das Problem existiert nichtsdestoweniger. Es verdient ein tiefes Nachdenken und eine ernsthafte kollektive Gewissenserforschung.

2. Die Liturgie und die Welt der Symbole

            Zweifellos beeinflussen die Arbeitsorganisation und die Wirtschaftsstruktur des Klosters das konkrete Leben des Mönchs am stärksten. Aber in der Ordnung der Werte gibt es noch wichtigere Dinge. Der heilige Benedikt ist sehr kategorisch mit seiner Anweisung, dass nichts dem gemeinschaftlichen Gebet vorgezogen werden dürfe: nihil operi Dei praeponetur.

Die Tatsache, dass er jeden Tag mehrmals in Gemeinschaft mit anderen betet, formt den Mönch zu einer beständigen inneren Haltung des Gebets. Der tägliche Gebrauch von Texten der Heiligen Schrift, besonders der Psalmen, weckt in ihm die tiefsten religiösen Gefühle, die im Herzen des Menschen schlummern. Dennoch ist es wichtig, dass wir uns zwei Fragen stellen. Erstens: sind die liturgischen Formeln, die wir benutzen, Träger einer Theologie und Spiritualität, die mit unserer spirituellen Erfahrung in Einklang steht? Und zweitens: Sind die Formen unsere liturgischen Feiern nicht übermäßig beeinflusst von der in unserer Umgebung herrschenden Kultur?

            Seit dem heiligen Benedikt hat das Offizium – wie übrigens alle anderen Elemente unseres liturgischen Lebens auch – eine lange Entwicklung durchgemacht und ist durch mancherlei theologische Vorstellungen und gesellschaftliche Bedingungen geprägt worden. Um nur ein Beispiel zu nennen, das ein wenig drollig ist: eine ganze Reihe von Gebeten lassen uns, wenn man sie in ihrem ursprünglichen Sinn nimmt, um die Errettung aus Gefahren bitten, die schon seit einigen Jahrhunderten verschwunden sind!

            Das Göttliche Offizium ist zu einer Zeit erstellt worden, als das Römische Reich unter den Einfällen der Barbaren zu leiden hatte und die Gemeinschaft den Vorrang vor dem Einzelnen hatte. Entspricht der Stil dieser gemeinsamen liturgischen Feiern noch den spirituellen Bedürfnissen der Menschen unserer Zeit, die viel stärker für die Wichtigkeit und Würde der Person sensibilisiert sind? Andererseits war zu der Zeit, als sich diese Art von Offizium herausbildete, die rituelle Ausdrucksform von erstrangiger Bedeutung, während man in der spirituellen Entwicklung unserer Zeit eher den Eindruck hat, dass der Innerlichkeit größeres Gewicht beigemessen wird als den Riten. Von daher kann man sich fragen, ob das Gleichgewicht zwischen dem privaten und dem gemeinschaftlichen Gebet sowie zwischen Psalmodie und stillem Gebet, das der heilige Benedikt für seine italienischen Mönche des sechsten Jahrhunderts suchte, noch gültig ist für die Menschen von heute, oder ob es nicht von Vorteil wäre, es neu zu bestimmen.

            In der christlichen Gesellschaft, in der dieses Offizium gestaltet wurde, bestand eine sehr enge Beziehung zwischen den großen kollektiven Symbolen, die Deutungsmuster des Universums und des menschlichen Daseins darstellen, und dem Alltagsleben. Die religiösen Riten und die Lebensrhythmen, die Spiritualität und die Kultur der Volkes, die Mythen und das gelebte Leben verstärkten sich gegenseitig und gaben dem Leben Zusammenhang, Sinn und Ausrichtung. Himmel und Erde waren wie durch ein Scharnier gut miteinander verbunden. Der moderne Mensch dagegen findet sich – wenigstens in den sogenannten zivilisierten Gesellschaften – in seinem Alltagsleben ohne Liturgie, ohne Riten, ohne Spiritualität vor, ohne eine Kultur des Volkes. Mechanische Strukturen haben die organisch gewachsenen ersetzt.

Können wir ignorieren, dass unser monastisches Leben heute von dieser kulturellen Entwicklung weitgehend verändert wurde? Gewiss, wir haben unsere Liturgie, unsere Riten, unsere Symbole noch bewahrt. Aber sie stimmen nicht mehr mit der Wirklichkeit überein, oder sie haben jedenfalls viel weniger Zusammenhang mit unserem alltäglichen Leben, z.B. mit unserer Arbeit, die oft entsprechend den technischen und verwaltungsmäßigen Anforderungen irgendwelcher Fabriken organisiert ist, oder selbst mit unseren Studien, die sich heute nach den Wegen der modernen Wissenschaft richten. Eine tiefgehende Spaltung bedroht unser Alltagsleben, eine Art geistlicher Schizophrenie. Bestimmte Mönche heben die Spannung auf, indem sie sich völlig in die Arbeit hineingeben, gelegentlich unter dem Deckmantel einer Mystik des Dienens. Andere geben sich ganz in die Liturgie hinein oder in die rituelle Dimension des Mönchslebens, wobei sie die anderen monastischen Beschäftigungen wie die Arbeit als etwas akzeptieren, was leider notwendig ist, aber nicht wirklich wichtig.

            Ganz wie der moderne Mensch dazu neigt, der harten Realität des Alltags auszuweichen, indem er sich neuen symbolischen Welten und neuen Religionen widmet, so kann auch der Mönch der Versuchung nachgeben, sich in einem liturgischen Universum, das abgekoppelt ist vom Alltagsleben, symbolischen Ersatz zu schaffen für die Wirklichkeit. Die Herausforderung, mit der wir alle gemeinsam konfrontiert sind, besteht nicht darin, uralte Symbole einer anderen Kultur abzustauben und aufzufrischen, sondern unsere alltägliche Erfahrung von heute in neue Symbole umzusetzen.

            Auch wenn wir hier diesen Punkt nicht weiter vertiefen können, müssen wir uns doch Rechenschaft darüber geben, dass unsere Liturgie gesellschaftliche und politische Haltungen in sich trägt und weiter vermittelt. Es wäre gut, wenn wir diesen Gehalt bewusst wahrnehmen und analysieren würden, denn sonst könnte sie tatsächlich leicht dazu dienen, den status quo zu verfestigen, anstatt uns wach zu machen für die Forderungen des Evangeliums im sozialen Miteinander.

3. Lectio divina und Studien

            Von allen Tätigkeiten des Mönchs ist – nach dem Gebet und in Verbindung mit ihm – sicherlich die lectio divina die traditionellste und zugleich grundlegendste. Durch sie hält sich der Mönch in ständigem Kontakt mit dem Wort Gottes, mit dem Leben und dem Beispiel des fleischgewordenen Wortes, mit der geistlichen Erfahrung der großen Zeugen des Alten und Neuen Testaments. Sicher wirkt kein Element unserer monastischen politeia stärker formend als die lectio divina – nicht deshalb, weil sie den Mönch inhaltlich etwas lehren würde, sondern weil sie ihn den Weg seines Herzens entdecken lässt und ihn zur Bekehrung nicht nur des Herzens, sondern seines ganzen Lebens führt. Sie ist, um mit Jean Leclercq zu sprechen, eine „aktive Lektüre“, das heißt: sie fordert vom Leser, dass er sein Leben umgestalte, um es dem anzupassen und gleich zu gestalten, was das Wort der Schrift ihm sagt.

            Dennoch ist klar, dass diese Lesung heute in einem ganz anderen Umfeld und Lebenskontext stattfindet als zum Beginn des Mönchtums und im Mittelalter. Die geistliche Lesung, wie die Alten sie auffassten, setzte einen kulturellen Rahmen voraus, den es heute nicht mehr gibt; er wurde durch ein harmonisches Ganzes von Symbolen und Archetypen, von liturgischen, künstlerischen und poetischen Riten, von Philosophie und Mythen gebildet. Dieser kulturelle Kontext weisheitlicher Art ist heute untergegangen, das muss man einfach zugeben, selbst wenn wir es bitter beklagen möchten.

Wie heute „Monastische Formung“ vermitteln ?

            Der Novize, der ohne die notwendige Vorbereitung darangeht, Evagrius oder Cassian zu lesen, kann deren Texte hoch interessant finden und vielleicht auch Nutzen aus der Lesung ziehen. Aber was er liest, wird gewiss nicht Evagrius oder Cassian sein, sondern das, was er selbst darin finden will. Eine wirkliche lectio divina ist in unseren Tagen nicht möglich ohne eine solide Unterweisung in der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern. Aber auch da dürfen wir noch nicht stehen bleiben. Bis heute haben wir uns dazu gezwungen, die jungen Mönche und Schwestern zuerst in eine Kultur der Vergangenheit einzuführen, damit sie danach eine „monastische Formung“ bekommen könnten. Ich fürchte sehr, dass in den meisten Fällen das, was wir als „monastische Formung“, also einen Weg zur Heranbildung der jungen Mönche ausgaben, nichts anderes war als eine kulturelle Einführung in die Welt der Antike und des Mittelalters, eben in die Vergangenheit. Wenn wir die jungen Leute allzu schnell in die Lektüre von Vätertexten versetzen, laufen wir Gefahr, sie zu kulturell Entwurzelten zu machen, zu Menschen, die nirgendwo mehr heimisch sind.

            Es scheint mir wichtig, zuerst und vor allem eine echte monastische Kultur für den Menschen von heute zu schaffen, die konsequent und in sich stimmig ist. Erst wenn er sich persönlich gut in diese monastische Kultur integriert hat, kann der junge Mönch ohne die Gefahr der Entfremdung daran gehen, Schriften zu studieren, die einer anderen Kultur angehören. Die umgekehrte Haltung würde nichts anderes darstellen als eine Art von intellektuellem Tourismus.

            Eine erste Gefahr besteht hier darin, die wirkliche lectio divina zu verwechseln mit den notwendigen einführenden Studien der Kirchenväter und ihrer Kultur. Aber es gibt noch eine zweite Gefahr, die feiner und schwerer zu fassen ist. In unseren in hohem Maß verschulten Gesellschaften ist das Wissen, wie alles übrige auch, zu einem Konsumartikel geworden. Je mehr ein Mensch an Bildung konsumiert, desto mehr lässt er sein Wissen Frucht tragen und steigt damit auf in der Hierarchie der „Kapitalisten der Erkenntnis“. Das führt dazu, wie Illich ausführte, dass die Bildung eine neue Pyramide der Gesellschaftsklassen definiert, in dem Maß, als die großen Konsumenten des Wissens unter dem Vorwand, der Gesellschaft Dienste von höherem Wert zu leisten, sich auch das Recht vorbehalten, das Glück des Menschen neu zu definieren und seine Bedürfnisse festzulegen. Weder die biblischen Studien noch die eingehende Beschäftigung mit den Vätern des Mönchtums können dieser Entwicklung entkommen. Das kulturelle Universum des alten Mönchtums muss von einer kleinen Zahl von Spezialisten (oder „Kapitalisten der Erkenntnis“) in mühsamer Arbeit neu entdeckt werden. Diese sind immer in Versuchung, für sich allein das Recht in Anspruch zu nehmen, die Ziele und die Werte des Mönchtums zu definieren – wie die Spezialisten aller anderen Zweige der modernen Wissenschaft auch. Damit wird wirklich eine Art intellektueller und moralischer Herrschaft ausgeübt.

4. Brüderlichkeit und Privatisierung

            Die Kirche ist ein Geheimnis der brüderlichen Gemeinschaft. Alle zönobitischen Gründungen im Verlauf der Geschichte haben in der Urgemeinde von Jerusalem ein nachahmenswertes Beispiel gesehen. Als der junge Pachomius im Gefängnis in dem umsonst und uneigennützig dargebotenen Beistand, den einige Christen der Stadt ihm brachten, Christus selbst erkannt hatte, legte er das Versprechen ab, „dem Menschengeschlecht zu dienen alle Tage meines Lebens.“ Das grundlegende Kennzeichen der pachomianischen Daseinsweise ist die brüderliche Liebe, die sich äußert in einem beständigen gegenseitigen Dienen der Brüder. Bei Benedikt wird man diese Atmosphäre brüderlicher Liebe, Rücksichtnahme, Achtung und gegenseitiger Hilfe wiederfinden.

            Gewiss gibt es keine bessere Schule der Nächstenliebe und der Gottesliebe. Dennoch ist der kulturelle Kontext, in dem Benedikt dieser tiefen Intuition konkrete Gestalt verleiht, die zeit der Völkerwanderung, in der die junge Christenheit durch die Invasionen der Barbarenstämme erschüttert wurde. Von daher kann man wohl einerseits viele der jungen Mönche von damals als noch nicht ganz erwachsen betrachten; andererseits wurde deshalb die Rolle des Oberen ein wenig nach dem Bild des römischen Paterfamilias aufgefasst, der über seine Kinder wacht, notfalls den Stock in der Hand. Das ist ganz normal, denn es war die Gesellschaft als solche, die noch nicht erwachsen war, und die jungen Christen waren eben noch Jugendliche. Es ist übrigens noch nicht so lange her, dass die Päpste  die Staatsoberhäupter, ja die gesamte Menschheit nicht nur als Söhne, sondern gar als Kinder anredeten! Aber seitdem ist viel Wasser den Rhein und selbst den Tiber hinabgeflossen. Ein großer Teil der Menschheit und der Christenheit ist erwachsen geworden. In unseren Tagen kann man erwarten, in unseren Klöstern reife Männer und Frauen zu finden, die gemeinsam für die Gütergemeinschaft ihres persönlichen geistlichen Weges Verantwortung übernehmen unter der Leitung eines Abbas.

            Andererseits haben sich, vor allem seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, sowohl die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen als auch die Art und Weise, wie Autorität ausgeübt wird, in unseren Gemeinschaften recht gut weiterentwickelt. Aber man kann sich fragen, ob diese Entwicklung tatsächlich jene Brüderlichkeit, die ein wesentlicher Bestandteil des zönobitischen Mönchtums ist, besser verwirklicht und zum Ausdruck bringt. Hat sich nicht häufig unter dem Deckmantel der Achtung vor der menschlichen Person und ihrer Selbstbestimmung ein sehr großer Individualismus entfaltet, wie er für unsere moderne Gesellschaft charakteristisch ist? Nietzsche hatte bereits vorhergesagt, dass die kommende Welt gekennzeichnet sein würde von der Unabhängigkeit des Individuums und der Zusammenballung der Masse. Ist diese Tendenz zur Privatisierung einerseits und zur Vermassung andererseits nicht in Gefahr, auch unsere monastischen Gemeinschaften zu bestimmen?

            Oft haben wir auch Haltungen in unsere zwischenmenschlichen Beziehungen eingeführt, die man in unserer Gesellschaft – nicht ohne eine gewisse Ironie - als „demokratisch“ bezeichnet. Und das endet leicht bei der Diktatur der Mehrheit. Jedermann weiß, dass eine solche Diktatur noch unerbittlicher ist als die eines Einzelnen, wie autoritär dieser auch sein mag! In dieser wie in manch anderer Hinsicht stehen wir immer wieder vor derselben Herausforderung: Einerseits hat im alten Mönchtum das Ideal der Brüderlichkeit Fleisch angenommen in kulturellen Strukturen, die wir nicht mehr akzeptieren können, andererseits aber steht die uns heute umgebende Kultur in vielen Punkten im Gegensatz zu diesem Ideal. Wir werden geformt durch den gemeinsamen Lebensstil in unserer Kommunität. Wenn wir also weder durch eine Kultur der Vergangenheit noch durch eine der mönchischen Lebensweise und Erfahrung entgegengesetzte Kultur bestimmt und geprägt werden wollen, liegt es zwangsläufig an uns, eine eigene monastische Subkultur für dieses beginnende 21. Jahrhundert zu erarbeiten.

III. Schlussfolgerungen und Ausblick

            Wir können uns dafür entscheiden, in der Vergangenheit zu leben, aber wir sind dann von der konkreten Wirklichkeit abgeschnitten. Wir können versuchen, die Werte des Mönchtums - oder jedenfalls einige von ihnen – in der uns umgebenden Kultur zu leben, und eine ganze Reihe von Weltleuten tun das auch. Aber dafür braucht man eigentlich nicht mehr ins Kloster zu gehen. Wozu wir berufen sind, das ist: für den Menschen von heute eine authentische monastische Kultur (oder Subkultur) innerhalb der großen uns umgebenden Kultur, aber mit einer kritischen Funktion ihr gegenüber, zu erarbeiten, damit die Männer und Frauen unserer Zeit darin – ohne aufzuhören, ihrer Zeit anzugehören – gewissermaßen die Komposterde finden können, das günstige Milieu, in dem jene Art spiritueller Erfahrung keimen kann, die man seit Jahrhunderten als die Erfahrung der Mönche bezeichnet.

            Was man von einem monastischen Milieu erwartet, ist vor allem eine Lebensschule, wie auch immer sie konkret aussehen mag. In unserer gegenwärtigen Art und Weise, die Ausbildung zum Mönchsleben anzugehen, sind wir nicht realistisch genug. Wir setzen bei den Novizen eine Menge von Dingen voraus, die bei ihnen nicht vorhanden sind, während wir eine Menge anderer Dinge, die sich bei ihnen finden, nicht erkennen und akzeptieren. Ehe sie von all dem Unterricht, den wir geben, profitieren können, müssen sie lernen zu leben, zu wachsen – und das setzt voraus, dass sie lernen, zu sterben und wieder neu geboren zu werden.

            Unsere Klöster laufen oft Gefahr, bloße Oasen zu sein, ein wenig bürgerliche Zufluchtsräume, wo die Mönche vor den meisten negative Aspekten der uns umgebenden Kultur geschützt sind und sich nicht der Herausforderung einen anspruchsvollen geistlichen Wachstums stellen müssen. Die Kommunität soll das angemessene Lebensumfeld bieten, in dem der Mönch die Tode und die darauf folgenden Wiedergeburten leben kann, die imstande sind, ihn zur spirituellen Reife zu führen. Doch oft ist sie in Gefahr, nur der warme Mutterschoß zu sein, der ihn in einem Zustand ewiger Kindheit hält. Allgemein kann man sagen: Institutionen, die im Einklang bleiben mit der spirituellen Erfahrung, die sie ausdrücken und schützen sollen, bewahren ihre Schmiegsamkeit und Anpassungsfähigkeit. Sie verhärten, sobald sich dieser Einklang verschlechtert, weil sie sich nicht mehr erneuern. Sie werden dann leicht zu prägenden Formen, die den Mönch daran hindern, er selbst zu werden, sein „inneres Selbst“ zu erreichen und Antwort zu geben auf die Rufe, die an ihn ganz persönlich ergehen.

Es ist die traditionelle Lehre der großen Mystiker, dass der Einzelne an einem bestimmten Punkt des Gebetslebens einfach den inneren Eingebungen seines Herzens folgen muss: Sie stützen sich auf nichts äußerliches, das ihren mystischen Charakter beweisen könnte. Wenn einer berufen ist, die Wege der Kontemplation zu betreten, ist er berufen, die überlieferten, konventionellen Formen des Denkens und Handelns zu verlassen und seine Ausrichtung von neuen, verborgenen Kriterien her zu beurteilen: vom unsichtbaren Licht des Heiligen Geistes in seinem Herzen. Es ist klar, dass dies nicht ohne ein gewisses Risiko geht. Unsere monastischen Institutionen, die zumindest während der letzten Jahrhunderte stereotyp geworden sind, wurden dadurch zu einer höchst effektiven Abschirmung gegen dieses Risiko! Dadurch haben sie den Mönch aber auch geschützt vor jeder Form einer tiefgehenden geistlichen Entwicklung – und vor der wahren solitudo, der echten Einsamkeit. Nichts ist im übrigen so sehr ein Feind der Kontemplation, des kontemplativen Lebens, als wenn man jene, die sich darin engagiert finden, zwangsweise organisiert.

            Um die monastische Kultur zu entwickeln, die wir nötig haben und die geeignet wäre, jene Tausende junger Menschen, die gegenwärtig anderswo suchen, zur spirituellen Erfahrung hin zu formen, sind zwei Etappen zu beachten: Erstens, unsere gegenwärtige Situation im Licht der Tradition und unserer aktuellen Bedürfnisse sorgfältig zu analysieren. Zweitens, unserer schöpferischen Vorstellungskraft freien Lauf zu lassen. Ich habe hier versucht, den Ansatz einer Analyse zu bieten; die Entfaltung der Kreativität muss notwendigerweise ein gemeinsames Unterfangen werden.